Die Geschichte von Ruth

Die Geschichte Ruths, der Moabitin, hätte keinen Platz in der Heiligen Schrift, wenn wir aus ihr keinen Nutzen ziehen könnten. Sie ereignete sich zur Zeit der Richter, als die zwölf Stämme Jakobs Kanaan erobert hatten und noch keine politische Einheit im Sinne eines Staates bildeten. Damals gab es noch keinen Herrscher in Israel, der dem Volk Verpflichtungen und Lasten auferlegt hätte. Israel war frei und niemandem Gehorsam schuldig als Jahwe, Gott, dem allmächtigen Herrscher des Himmels und der Erde allein: ihrem König.

Und doch endet das Buch der Richter mit dem Satz: „In jenen Tagen war kein König in Israel; ein jeder tat, was recht war in seinen Augen.” In wessen Augen? In Gottes Augen gewiß nicht. Denn das Bündnis, das Gott mit den Kindern Israel und die Kinder Israel mit Gott eingegangen waren, bestand aus Recht und Gerechtigkeit, und aus Segen und Fluch. Segen und Gedeihen in jedem Zweig ihres täglichen Lebens, wenn sie die guten, lebenerhaltenden Gebote Gottes fleißig beobachten würden; Unglück und Verderben aber im Falle der Nichtbeachtung jener einzigartigen göttlichen Einrichtung. Demnach war die Hungersnot, mit der das Buch Ruth beginnt, eine Züchtigung der Kinder Israel von seiten ihres großen Gottes.

Und es war eine strenge Züchtigung, denn sie betraf sogar die wasserreiche Gegend um Bethlehem, was übersetzt heißt: „Haus des Brotes”. Mit dem ursprünglichen Namen hieß jene Region Ephrata, „die Fruchtbare”.

Ein gewisser Elimelech - sein Name bedeutet: „Gott ist König” - zog zu jener Zeit mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen von Bethlehem fort, um sich im Lande Moab aufzuhalten. Der Name seiner Frau war Naomi, was „schön” und „lieblich” bedeutet; der eine ihrer Söhne hieß Machion, und der andere Kiljon.

Der Umzug nach Moab fand Gottes Billigung nicht. Elimelech fürchtete, in Bethlehem verhungern zu müssen; doch kaum war er in Moab angelangt, als er starb. Durch seinen Weggang hatte er Gottes Anweisung nicht beachtet. Anstatt Gott anzurufen und Ihm zu vertrauen, zog er mit den Seinen in ein Land, in dem man Götzen anbetete. Elimelech suchte einer Bedrängnis zu entgehen, und führte seine Familie in eine noch schlimmere Lage; wohl entgingen sie der Hungersnot, doch im fremden Land holte der Tod ihren Ernährer.

Machion und Kiljon kehrten nicht zu ihrem Volke zurück; nein, sie verstießen ihrerseits gegen das Gesetz und heirateten heidnische Frauen. - siehe 5. Mose 7:3 Nun hatte Naomi kein Eigentum und keinen Mann mehr, und bald danach starben auch ihre beiden Söhne. Ihr einstiges Glück hatte sich in Sorge und Trauer verwandelt; allein stand sie im fremden Land. Was sollte sie tun?

Es erreichte sie aber die Nachricht, daß Gott sich Seinem Volke wieder zugewandt und die Hungersnot im Lande ein Ende habe. In Naomis Herzen hatte nie völlige Zustimmung zu der Übersiedelung bestanden, und so wandte sie sich wieder ihrem Heimatland zu. Ihre beiden Schwiegertöchter, die ihr von Herzen zugetan waren, bestanden darauf, sie zu begleiten. Doch Naomi wollte dieses große Opfer nicht annehmen, daß die beiden Frauen ihre Verwandtschaft und ihre Freunde verlassen sollten, um mit ihr in ein fremdes Land zu ziehen und ihre Armut zu teilen.

Sie redete ihnen zu Herzen, in ihr Elternhaus zurückzukehren. Aber die beiden weinten und versicherten Naomi ihrer aufrichtigen Liebe, die ihnen nicht erlaubte, sie in der Stunde der Not allein zu lassen. Sie bestanden darauf, mit ihr zu ziehen und alle Unbilden mit ihr zu teilen. Da sagte Naomi: „Jahwe erweise Güte an euch, so wie ihr sie an den Verstorbenen und an mir erwiesen habt. Jahwe gebe euch, daß ihr Ruhe findet, eine jede in dem Hause ihres Mannes!” - Kapitel 1:8 und 9 Aber die Schwiegertöchter antworteten: „Doch, wir wollen mit dir zu deinem Volke zurückkehren!”

Dies ist zweifellos ein Bild unvergleichlicher Zuneigung. Wie konnte eine solch tiefe Liebe entstehen?

Zehn Ehejahre hatten diese beiden jungen Frauen in einer jüdischen Familie zugebracht und die dort herrschende freundliche Atmosphäre kennengelernt. Ehe und Familienleben sind ein Spiegelbild von Glauben und Gottesverehrung. Das Volk Israel war anders als die übrigen Völker. Es war nicht allein der Name ISRAEL, „Gotteskämpfer”, der sie von allen anderen Völkern unterschied, sondern vor allem die Führung und der Schutz des allein wahren Gottes, der die Kinder Jakobs von den abscheulichen Götterkulten der sie umgebenden Heidenvölker abzusondern suchte. Und von der Lebensweise in Haus und Familie, die in der Treue und Liebe Frauen und Kindern gegenüber zu finden war, fühlten sich die beiden Schwiegertöchter Naomis angezogen, und nahmen sie dankbar an. Und nun erwiderten sie in aufopfernder Liebe die freundliche und liebevolle Behandlung, die sie erfahren hatten. Die Kenntnis von dem lebendigen Gott, Jahwe, dessen wunderbarem, gerechtem Gesetz, und der Glaube an Seine allweise Führung waren ihnen in ihren Familien zum lebendigen Gut geworden.

Behutsam und mit Feingefühl erklärte Naomi ihren Schwiegertöchtern, daß sie in Israel nicht auf einen Mann oder ein Heim hoffen dürften, denn Machion und Kiljon hatten gegen das Gesetz gehandelt, als sie Ausländerinnen heirateten. In Moab würde sich eine junge Witwe ohne weiteres wieder verheiraten können, und Schutz, Sicherheit und Ehre im Hause ihres neuen Mannes genießen. Daher lautete ihr selbstloser Wunsch: „Jahwe gebe euch, daß ihr Ruhe findet, eine jede in dem Hause ihres Mannes”, in eurem eigenen Land. Das Wort, das der Text mit „Ruhe” wiedergibt, bezeichnet etwas Großartiges und Schönes. Es umfaßt den Gedanken an ein bleibendes Zuhause, eine Heimat für die Seele in Güte und gegenseitigem Verstehen: Ruhe für Herz und Verstand.

Orpa nun, die eine der Schwiegertöchter Naomis, hegte sicherlich eine tiefe Zuneigung zu ihrer Schwiegermutter, doch letztlich war ihr natürlicher Wunsch nach Mann und Heim stärker als ihre Opferbereitschaft. Sie überschlug die Kosten und spürte, daß sie ihr zu hoch waren; und sie wandte sich nach Moab zurück. Wir haben in Orpa ein Vorbild, auf das wir später noch eingehen werden.

Die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf

Ruths Liebe aber war größer. Es war wohl Naomis Wesen, das diese Liebe und Dankbarkeit in Ruth ausgelöst hatte. Naomi hatte ein schönes Bild von Israel und seinem Gott in Ruths Herzen wachsen lassen, und so hatte Ruth nur den einen Wunsch, zu jenem Volke zu gehen, das so liebenswürdig wie Naomi und ihre Familie war. Ein Gott, der solche Menschen in seinem Dienst hat, muß ein wunderbarer Gott sein!

Ihre Antwort an Naomi ist eines der schönsten und reinsten Zeugnisse aufopfernder Liebe, das wir finden können: „Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, hinter dir weg umzukehren; denn wohin du gehst, will ich gehen, und wo du weilst, will ich weilen; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will ich sterben, und daselbst will ich begraben werden. So soll mir Jahwe tun und so hinzufügen; nur der Tod soll scheiden zwischen dir und mir! Und als sie (Naomi) sah, daß sie fest darauf bestand, mit ihr zu gehen, da ließ sie ab, ihr zuzureden.” - 1:16 - 18 Ruth hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie war in ihrem Herzen keine Moabitin mehr.

„Und so gingen sie beide, bis sie nach Bethlehem kamen.” Eine traurige Heimkehr für Naomi! Kein Zuhause, keine Familie außer ihrer Schwiegertochter, keine Freunde: nur Armut. Aber Ruth war ein Juwel! Naomis Mittel waren erschöpft; Gottes Geduld und Barmherzigkeit nicht. Schon hatte Er begonnen, für Naomis Segnung Vorkehrungen zu treffen, als sie sich nach Bethlehem wandte.

Die Stadt war in Aufregung, als sie eintraf, und die Frauen tuschelten miteinander und fragten: „Ist das Naomi?” Sie aber antwortete und sprach: „Nennet mich nicht Naomi, nennet mich Mara, denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht.” - Vers 20 Naomi gibt nun nicht etwa ihrem Mann Elimelech die Schuld; sie weiß sehr gut, daß sie alle gegen die Anordnung Gottes verstoßen haben. Und so sagt sie nur: „Voll bin ich gegangen, und leer hat mich Jahwe zurückkehren lassen.”

Ja, Jahwe hatte sie zurückgebracht, auch wenn sie nicht wußte, daß Seine Hand es war, die sie führte. Es war Gottes Liebe, die Naomi auf den rechten Weg zurückzog.

Gott liebt uns zu sehr, um uns verlorengehen zu lassen. Darum erteilt Er uns Warnungen und läßt Leiden zu mit dem Ziel, uns auf den rechten Weg zurückzubringen. „Mit Menschenbanden zog ich sie, mit Seilen der Liebe …”, heißt es in Hosea 11:4. In Seiner Liebe bediente sich Gott der Leiden, um Naomi von den bösen Einflüssen der heidnischen Welt zu befreien und in die schützende, gottnahe Umgebung ihres Volkes zurückzuführen. Trotz alledem scheint den beiden Frauen nicht viel nachbarliche Hilfe geleistet worden zu sein.

Es war gerade Erntezeit. Ruth machte den Vorschlag, zum Ährenlesen auf die nahen Felder zu gehen, und - so viel sie konnte - für ihren Unterhalt einzusammeln. Das war keine leichte Arbeit; im Gegenteil: eine elende Aufgabe für ein Menschenkind, das bessere Zeiten gesehen hatte. Möglicherweise wurde Ruth als Bettlerin behandelt, barsch angeredet, wenn nicht gar von groben Knechten mißhandelt. Sie mußte den Tag in Hitze und Erniedrigung zubringen, um am Abend wenigstens etwas Getreide heimzubringen. Aber ihre Liebe zu Naomi gab ihr Mut und Kraft und machte ihr den Dienst leicht. Sie beklagte ihr Schicksal nicht. Mit bestem Willen tat sie, was sie konnte, mit den Kräften, die ihr zur Verfügung standen.

Gott hatte dem Volke Israel Gesetze gegeben, für die Armen und Fremdlinge zu sorgen, denn die Kinder Israel waren einst selbst Fremde gewesen im Lande Ägypten. - siehe 5. Mose 24:19 - 22 Die Ecken der Felder und etwas von den Garben sollten zum Auflesen für die Bedürftigen übriggelassen werden.

Ruth ging nun auf die Felder, und Jahwe lenkte ihre Schritte. „Und sie traf zufällig das Feldstück des Boas”, der zu dem Geschlecht ihres verstorbenen Schwiegervaters Elimelech gehörte. - Kapitel 2:3 Während sie auflas, kam Boas aus Bethlehem und schaute nach dem Stand der Ernte. Sein Gruß an die Schnitter offenbart einen feinen, gottähnlichen Charakter. „Jahwe sei mit euch!” rief er ihnen zu. Und sie antworteten: „Jahwe segne dich!” Daß dies nicht nur ein höflicher Gruß, sondern ein aufrichtiger Wunsch war, sehen wir aus einer späteren Unterredung des Boas mit seinem Aufseher, der die gleiche Gesinnung wie sein Herr an den Tag legte.

Boas sah den Arbeitern zu und beobachtete eine fleißig mit Auflesen beschäftigte Frau von ernsthaftem und gesammeltem Wesen, die still und zurückhaltend ihre Arbeit tat. Ihre Haltung zeigte, daß sie keine gewöhnliche Dienstmagd sein konnte, und er fragte den Aufseher, wer sie sei. Der Aufseher berichtete seinem Herrn, daß die Frau seit dem frühen Morgen unablässig auflas und sich nur sehr kurz im Hause aufgehalten habe. Dieses Lob veranlaßte Boas, mit Ruth zu sprechen, und er bat sie, weiterhin auf seinem Felde aufzulesen, wo sie unbehelligt und in Sicherheit sei. Er wies die Schnitter an, sie nicht zu verspotten, auch wenn sie eine Fremde war. Und Ruth sprach zu Boas: „Warum habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, daß du mich beachtest, da ich doch eine Fremde bin?” - Vers 10

Beachten wir, wie vornehm Boas sich verhielt. Er zog aus dem Vorteil, höhergestellt zu sein, keinen Nutzen, und er griff nicht in die Rechte der Sammlerin ein oder verletzte gar ihre Selbstachtung durch zu viel Großzügigkeit. Sein freundliches Entgegenkommen setzte er vorsichtig ein, um ihre Würde nicht anzutasten. Er wies sogar die Knechte an, ohne Aufhebens hier und da eine Handvoll Ähren beim Garbenbinden fallen zu lassen, damit sie reichlicher aufzulesen hatte; und er wies Ruth an, dicht bei den Mägden zu bleiben, die die Garben banden.

Während der Rast am Mittag lud er sie ein, mit den Arbeitern und Schnittern zu essen, und er gab ihr geröstete Körner; er empfahl ihr auch, von dem sauren Wein zu trinken, der für die Ernteleute zur Erfrischung bereitstand.

Später ließ er sie wissen, daß er gehört habe, was sie für Naomi getan, ja, daß sie Vater und Mutter und ihr Heimatland verlassen und sich entschlossen habe, unter einem fremden Volk zu leben. Der Bericht wird in einer bemerkenswerten und sehr schönen Weise fortgesetzt. Boas sagte nicht: „Ich helfe dir!”, sondern: „Jahwe vergelte dir dein Tun, und voll sei dein Lohn von Jahwe, dem Gott Israels, unter dessen Flügeln Zuflucht zu suchen du gekommen bist.” - Vers 12

Ruths Opfer war so edel, und es kam so sehr aus ihrem Herzen, daß man nicht erwarten kann, viele Menschen zu finden, die einen solch tiefen und reinen Wesenszug voll zu würdigen verstehen. Gott allein sieht in das Herz und kennt das Innerste eines jeden Menschen; und er wird auch einem jeden vergelten. Boas nun wünschte, daß Ruth in vollem Umfang vergolten werde, denn sie war gekommen, um Schutz und Zuflucht unter der Allmacht des Bündnisgottes Israels zu suchen.

Die guten Worte des Boas waren vielleicht die ersten Sonnenstrahlen in dem Kummer und den Tränen der vergangenen Wochen. Bis dahin hatte Ruth die Bürde getragen, ihre Familie, ihr Zuhause und ihr Volk verlassen zu haben. Da sprach nun ein anderer Israelit, nicht Naomi, zu ihr vom Gott Israels und Seiner Gnade. Die Stimme eines Mannes aus dem Volke Gottes verhieß ihr Segen. Ohne Zweifel war dieser Trost wie Balsam auf ihr trauriges Herz. Voll Dankbarkeit antwortete sie Boas: „Möge ich Gnade finden in deinen Augen, mein Herr! Denn du hast mich getröstet und hast zum Herzen deiner Magd geredet, und doch bin ich nicht wie eine deiner Mägde.” -Vers 13

Durch diese Rede stieg sie nur noch höher in der Achtung des Boas. Welch ein edler Charakter offenbarte sich hier! So manch andere in ihrer Lage hätte wohl gesagt, daß sie solch niedrige Arbeit nicht gewöhnt sei, und hätte sich beklagt. Ruth aber war bescheiden und zurückhaltend; sie suchte nicht Anerkennung von anderen. Sie war jung und bei guter Gesundheit und tat gerne, was in ihren Kräften lag. Boas war freundlich zu ihr - nicht als Verwandter, sondern auf Grund ihres edlen Wesens. Ein freundliches Wort für ein liebevolles Herz, so wie das der Ruth, ist wie Tau am Morgen auf ein dürstendes Feld.

Ruth geht zurück zum Ährenlesen. Sie ist niemals müßig; sie ziert sich nicht, nimmt auch die Dinge nicht auf die leichte Schulter, weil nun der Herr ihr seine Aufmerksamkeit zugewandt hat. Sie arbeitet fleißig bis zum Abend und bleibt noch so lange, bis die Ähren ausgedroschen sind. Sie hat so viel gesammelt, daß der Ertrag etwa ein Epha Gerste ergab. Nach unserem Maß gerechnet: ungefähr 36 Liter. Zusätzlich bringt sie zu Naomi das Essen mit nach Hause, das sie bei der Mahlzeit auf dem Felde von ihrem eigenen aufbehalten hat. - Vers 18

Naomi erkennt, daß hier die Hand Jahwes waltet, daß Er es ist, der Ruth zum Feld des Boas geführt und sie beschützt hat. Und als Ruth ihr alles, was Boas ihr Gütiges getan, berichtet hat, sagt Naomi: „Gesegnet sei er von Jahwe, dessen Güte nicht abgelassen hat von den Lebenden und von den Toten!” - Vers 20 Mit diesen Worten meint Naomi, daß Gott noch ihren Verstorbenen Gnade erweise, indem er um ihre Lieben Sorge trage.

So empfiehlt sie Ruth, die ganze Ernte hindurch auf diesem Feld zu bleiben. Ruth erzählt auch, wie Boas gesagt habe: „Du sollst dich zu meinen Leuten halten, bis sie meine ganze Ernte beendigt haben.” Achten wir darauf, wie und in welch sanftem Ton ihre kluge Schwiegermutter diese Aussage zurechtrückte: „Es ist gut …, daß du mit seinen Mägden ausgehst, daß man dich nicht anfalle auf einem anderen Feld.” -Verse 21 und 22 Hier war Sicherheit, die von Jahwe ausging. „Und so hielt sie sich zu den Dirnen des Boas, um aufzulesen, bis die Gerstenernte und die Weizenernte beendigt waren, und sie wohnte bei ihrer Schwiegermutter.”

Der Löser

Als die Ernte vorüber war und das Getreide noch in der Tenne lagerte, kam Boas selbst herunter und übernahm die Aufsicht. Naomi sagte zu Ruth: „Meine Tochter, soll ich dir nicht Ruhe suchen, daß es dir wohl gehe?” - Kapitel 3:1 Was jetzt folgt, geschah in Übereinstimmung mit Gottes Gesetz, vergleiche dazu 5. Mose 25:5 - 10. Diese Satzungen beruhten auf der göttlichen Absicht, Israel nicht allein im geistigen Sinne als Volk zu erhalten, sondern eben auch als irdische Realität.

So, wie ein Baum in seinen Zweigen lebt, so lebte Israel in seinen Familien. Starb ein Mann ohne Kinder, war es, als ob ein Ast verdorrte. Um das zu verhindern, sollte in einem solchen Fall ein neuer „Zweig” in den „Baum” eingepflanzt werden: Es war Pflicht des nächsten männlichen Verwandten, die Witwe zu heiraten. Jede Familie mußte dafür Sorge tragen, daß kein „Zweig” ausstarb; doch nur ein Blutsverwandter konnte diesen Ausgleich schaffen.

Erklärt uns diese Rechtslage nicht, warum Jesus als kleines Menschenkind zur Welt kam, ernährt von dem Blute Marias, geboren und aufgezogen wie andere Menschenkinder auch, ehe er zum vollen Erwachsenenalter heranwuchs? Er durfte nicht wie Adam als fertig erschaffenes Wesen in dieses Erdenleben eintreten; nein - Adams Blut (nicht aber dessen sündiges Erbteil!), mußte in seinen Adern fließen, damit er als Blutsverwandter die Menschheit vom Todesurteil lösen konnte.

So wunderbar läßt uns Gott einen immer klareren Blick für die Tiefen Seiner Absichten gewinnen! Gewiß, die Schriften des Alten Bundes blieben uns verschlossen ohne das Licht des Neuen Testaments; das Studium der Schriften des Alten Testaments vertieft aber auch andererseits wieder unser Verständnis des Evangeliums Jesu Christi.

Naomi gab Ruth einen klugen Rat. In der Nacht, so daß Boas sie nicht sehen konnte, sollte sie zur Tenne hinabgehen und sich leise zu Füßen des schlafenden Mannes niederlegen. „Und sie ging zur Tenne hinab und tat nach allem, was ihre Schwiegermutter ihr geboten hatte. Und es geschah um Mitternacht, da schrak der Mann auf und beugte sich hin: und siehe, ein Weib lag zu seinen Füßen. Und er sprach: Wer bist du? Und sie sprach: Ich bin Ruth, deine Magd; so breite deine Flügel aus über deine Magd, denn du bist ein Blutsverwandter.” - Kapitel 3 Verse 6, 8 und 9

Was meinte Ruth wohl mit den Worten: „So breite deine Flügel aus über deine Magd”? Unter den Flügeln seiner Eltern wächst das Vogeljunge auf in Wärme und Geborgenheit. Die Flügel bedeuten ganz einfach: Schutz und Sicherheit. „Decke zu seinen Füßen auf und lege dich nieder”, hatte Naomi zu Ruth gesagt. Der Zipfel der Decke, den Ruth dann über sich breitete, war aber nicht genug, um ihr Schutz und Sicherheit zu bieten. Naomi wünschte für Ruth, daß Boas die ganze Decke mit ihr teile - daß er sie zu seiner Frau nehme. Ruths Handeln sollte Boas daran erinnern, das Gebot des Gesetzes zu erfüllen.

Und wie reagiert Boas?

Wiederum leuchtet der Adel des Charakters jenes Mannes auf als eines echten Israeliten, eines Mannes Gottes, indem er spricht: „Gesegnet seiest du von Jahwe, meine Tochter! Du hast deine letzte Güte noch besser erwiesen als die erste, indem du nicht den Jünglingen nachgegangen bist, sei es armen oder reichen. Und nun, meine Tochter, fürchte dich nicht! Alles, was du sagst, werde ich dir tun; denn das ganze Tor meines Volkes weiß, daß du ein wackeres Weib bist.” - Verse 10 und 11; siehe auch Sprüche 31:10 - 31

Inwiefern hat Ruth ihre letzte Güte noch besser erwiesen als damals, da sie alles aufgab, mit Naomi ging und sich ans Ährenlesen machte ? Nun, diese Angelegenheit hier war für sie eine weit schwierigere Aufgabe, als niedrige Arbeit zu tun, denn sie war heikel und nicht ungefährlich. Sein Recht zu fordern, kann demütigender sein, als sich nach Nahrung zu bücken. Ruth lief Gefahr, mißverstanden zu werden. Aber ihre große Liebe zu Naomi und ihre Selbstlosigkeit umgaben ihre Tat mit dem Glanz der Reinheit.

Um Ehre und Ansehen im Volk für ihre Schwiegermutter zu sichern, und um den Namen ihres Mannes vor dem Auslöschen zu bewahren, tat sie, was nur eine keusche Frau - geführt vom Geiste liebenden Gehorsams - zu tun wagt, und was die verdorbenen Sinne unreiner Menschen nicht zu begreifen imstande sind. Für einen edlen Charakter ist das Martyrium, möglicherweise als Sünder dazustehen, größer als Demütigung um der Tugend willen. Naomi muß Gott voll und ganz vertraut haben, wenn sie diesen Schritt befürwortete.

Da es außer Boas noch einen näheren Blutsverwandten gab, versprach er, jenem diese Angelegenheit vorzulegen. Wenn dieser seiner Verpflichtung nicht nachgehen wollte, dann würde er, Boas, sich der Sache annehmen. So blieb Ruth liegen bis zum frühen Morgen; es war jedoch noch dunkel, als sie wegging. Zuvor aber füllte Boas ihr Tuch mit Gerste, sechs Maß voll.

Warum sechs Maß? Warum nicht sieben Maß oder fünf? Sechs ist die symbolische Zahl für Arbeit und Dienst, gefolgt von der Sieben, der Zahl für Ruhe. „Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun; aber der siebente Tag ist Sabbath dem Jahwe, deinem Gott.” - 2. Mose 20:10 Und jeder, der sechs Jahre gedient hatte, wurde im siebenten Jahr freigelassen. - siehe 2. Mose 21:2 und 3 Auf diese Weise sandte Boas an Naomi die versteckte Nachricht, daß die Zeiten von Last und Mühe vorüber waren, und alsbald die Zeit der Ruhe beginnen sollte.

Boas rief zehn Männer von den Ältesten der Stadt zusammen und bat sie, sich im Tor niederzulassen. Das Tor war zur damaligen Zeit nicht allein Ort der Gerichtsbarkeit, sondern überhaupt aller Verhandlungen, die das öffentliche Leben betrafen. Als der nähere Verwandte aus Naomis Sippe herantrat, sprach Boas ihn an und legte ihm die Angelegenheit vor. Zuerst war der Verwandte bereit, Naomis Land abzulösen, aber als Boas dessen Aufmerksamkeit auf das Gesetz lenkte, wonach er Ruth heiraten mußte, zog sich der Mann zurück: „Ich kann nicht für mich lösen, daß ich mein Erbteil nicht verderbe. Löse du für dich, was ich lösen sollte, denn ich kann nicht lösen.” - Kapitel 4:6

Auch wenn die nächsten Verwandten der Naomi Ruth nur eben als „die Fremde”, die Moabitin, kannten und nach dem Buchstaben handelten, der dem Israeliten eine Ehe mit einer Nicht-Israelitin verbietet - siehe 5. Mose 7:1 - 4, Josua 23:12 und Esra 9:1 - 3 -, Boas jedenfalls hatte schon längst erkannt, welch ein Juwel an Glauben, Treue und Reinheit diese Frau war. Und er löste mit Freuden Naomis Erbteil und Machions Erbteil samt seiner jungen Witwe. Er nahm Ruth zur Frau; es wurde ihnen ein Sohn geboren, dem sie den Namen Obed (= Diener) gaben: „Er ist der Vater Isais, des Vaters Davids”. Auch Naomis Bitternis wandelte sich in Freude. Das ist die Geschichte von Ruth, wie sie in der Heiligen Schrift überliefert ist.

„Nütze zur Lehre …”

Daß die Bibel kein Geschichtenbuch ist, das dem Leser zur Unterhaltung dient, sagt das oft zitierte Wort des Apostels Paulus: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit … .” - 2. Timotheus 3:16 Sicherlich aber wäre es unrichtig, wollten wir nun in jeder Einzelheit ein geistiges Gegenbild oder eine Belehrung suchen. Doch enthält das Buch Ruth eine starke Aussage. Wir glauben, daß Gott hier ganz besondere, ja, grundlegende Gedanken Seines großen Vorhabens mit den Menschen - wiederum von einer anderen Seite betrachtet - zu erkennen geben will.

Das Buch Ruth ist die Geschichte eines Loskaufs. Wer oder was wurde gelöst? Gelöst wurde Naomis Erbteil und das ihrer verstorbenen Söhne, und gelöst wurde mit diesem Erbteil Ruth, die Fremde, die Heidin. Aber, war Ruth dem Bundesvolk Israel wirklich noch fremd? War sie noch die Angehörige einer fremden Götterwelt? Wurde sie nicht vielmehr „eingepfropft in die Wurzel und die Fettigkeit” Israels? - siehe Römer 11:17 Der Apostel Paulus sagt auch: „Nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist,… sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geiste, nicht im Buchstaben; dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist.” - Römer 2:28

Durch ihr wunderbares Bekenntnis zum Gott Israels war Ruth längst zur Israelitin geworden. Alles, was sie noch an ihre vormalige Welt band, hatte sie freiwillig verlassen, um in einen völlig anderen Lebenskreis einzutreten. Ihre opferbereite Liebe und Treue führen sie in das „Haus” Jahwes, des lebendigen Gottes; Demut und Reinheit lassen sie einen Löser finden - einen gütigen, mächtigen und reichen Mann. Durch ihn wird sie herausgenommen aus Trübsal und Armut, und hoch erhöht als seine auserwählte Braut und Gattin.

Hören wir da nicht unversehens die Stimme unseres Herrn, wenn er sagt: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. Und wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig.” „Wahrlich, ich sage euch: Da ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlassen hat um meinet und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfältig empfange… .”? - Matthäus 10:37 und 38; Markus 10:29 und 30

Und - spricht nicht die berufende Stimme Gottes: „Höre, Tochter, und sieh, und neige dein Ohr; und vergiß deines Volkes und deines Vaters Hauses! Und der König wird deine Schönheit begehren, denn er ist dein Herr: So huldige ihm!”? - Psalm 45:10 und 11 Ruth antwortet eben dann auch: „Ich bin Ruth, deine Magd; so breite deine Flügel aus über deine Magd … .”- Ruth 3:9

Alles in allem ist diese edle Frauengestalt doch ohne Zweifel ein Bild der Braut Christi aus den Nationen.

Hat auch Naomi, die Israelitin, etwas Wichtiges im göttlichen Erlösungsratschluß darzustellen? Wir denken, ja. Naomi scheint uns hier in diesem Zusammenhang das Volk Israel darzustellen, aber nicht sie allein. Zusammen mit ihrem Mann Elimelech formt sich das Bild des Bundesvolkes Gottes, das einmal Gott wohlgefällig war, indem es Ihm diente, zum anderen aber auch in die Gottesferne ging und „Jahwes, seines Gottes, vergaß”. Wer die Geschichte der Kinder Israel studiert hat, weiß, wie stark dieses Auf und Ab das Leben des auserwählten Gottesvolkes durchzog und noch immer dominierend beeinflußt.

Das Ehepaar Elimelech-Naomi verließ um zeitlicher Vorteile willen die besonderen Vorrechte der Verbindung mit Gottes Volk. Damit setzten sie sich selbst und ihre Kinder den gottlosen, unheiligen Einflüssen eines götzendienerischen Nachbarvolkes aus. Es ist niemals gut, unsere Bindung an den lebendigen Gott zu lockern oder gar zu lösen, schon gar nicht um zeitlicher Interessen willen. Und so starb auch Elimelech in der Ferne. Wie oft das Volk Israel „Gott ist König” (Elimelech) in der Gottesferne „sterben” ließ, lesen wir in seiner viertausendjährigen Geschichte. Das Resultat dieser Abtrünnigkeiten war jedesmal das gleiche: Bitternis, Betrübnis und geistige Armut. „Nennet mich nicht Naomi, nennet mich Mara (Bittere, Betrübte)”, sagt Naomi, als sie nach Bethlehem zurückkehrt, „denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht. Voll bin ich gegangen, und leer hat mich Jahwe zurückkehren lassen.”

Das sind die Erfahrungen Israels in dieser Weltzeit. Aber - daß Jahwe Naomi zurückkehren läßt, und sie wieder Aufnahme in Seinem „Brothaus” durch Boas findet, den Löser - das ist Gottes große erbarmende Gnade. Die Liebe der beiden Schwiegertöchter, vor allem aber Ruths Bekenntnis zu dem Gott Israels, ist ein Zeugnis für Naomis liebenswerte, gläubige Gesinnung und Lebensführung. Auch das, und letzten Endes gerade das ist Israel!

In Bethlehem begegnet unsere Erzählung dem großen Boas, dem „Herrn der Ernte”. Sein Name - „In ihm ist Stärke” - seine Güte, sein Edelmut und seine Gottesfurcht lassen sofort erkennen, daß er in jedem Fall Herr der Lage ist. Und er ist dann auch der Blutsverwandte, der Naomis Erbteil löst, das heißt für sich kauft. Er kauft nicht nur Naomis Erbteil von Elimelech, er kauft auch das Erbteil Kiljons und Machions - und er kauft Ruth, die Moabitin, das Weib Machions, „um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbteil zu erwecken, daß nicht der Name des Verstorbenen ausgerottet werde unter seinen Brüdern und aus dem Tore seines Ortes”. - Ruth 4:10

Wiederum scheint uns ein Wort des Apostels Paulus zu diesem Loskauf des Boas wichtig zu sein. In Epheser 1:13 und 14 lesen wir Folgendes: „Doch auch ihr (Heiden) habt gehört das Wort der Wahrheit, die frohe Botschaft, die euch Rettung bringt, und ihr habt sie im Glauben aufgenommen. So steht ihr nun mit Christus in Gemeinschaft und seid mit dem verheißenen heiligen Geist versiegelt worden. Der ist das Angeld unseres Erbes, und er verbürgt uns die Befreiung, die Gottes Volk erlangen soll, damit man rühme Gottes Herrlichkeit.” (nach Albrecht) Hierzu sagt der Kommentar der Stuttgarter Jubiläumsbibel: „Die Schaffung eines neuen Eigentumsvolkes aus Juden und Heiden ist der Anfang der Verwirklichung des allumfassenden Heilsplanes (Gottes).”

In Boas sehen wir wohl ohne Schwierigkeiten den großen Löser der Menschheit, Jesus Christus. Ist Er nicht der einzige „Blutsverwandte” Adams, der aufgrund seiner makellosen Gerechtigkeit fähig war, für das verwirkte Lebensrecht des ersten Menschen einen gleichwertigen Loskaufpreis zu zahlen: „Leben um Leben”? Und ist Er nicht der einzige Blutsverwandte auch des Volkes Israel, der „geboren von einem (jüdischen) Weibe, geboren unter Gesetz”, als Alleiniger das Gesetz hielt, und deshalb die, „welche unter Gesetz waren, loskaufte”? - Galater 4:4

Die Gerstenernte

Wenden wir uns nochmals zu Ruth. Die beiden Frauen erreichen Bethlehem „beim Beginn der Gerstenernte”. - Kapitel 1:22 Auch diese Bemerkung scheint nicht ohne tieferen Sinn. Die Gerstenernte war die erste der Getreideernten, die mit der Weizenernte ihren Abschluß fanden. Die Erstlingsgarbe war Jahwe geweiht und wurde jährlich als ein feierliches Opfer durch den Priester dem lebendigen Gott dargebracht. - 3. Mose 23:10 und 11 Das Passah und der Beginn der Gerstenernte waren zeitlich eng miteinander verbunden. Das Opfer der Erstlingsgarbe der Gerstenernte fiel auf den 16. Nisan, den Tag nach dem Festsabbath der ungesäuerten Brote. - 3. Mose 23:9 - 14 Es ist der Tag der Auferstehung unseres Herrn, welcher ist der „Erstling der Entschlafenen”, „der Erstgeborene aus den Toten”, und somit die wunderbare Verwirklichung dieses von Gott angeordneten vorbildlichen Opferdienstes. - siehe 1. Korinther 15:20, Kolosser 1:18

Jesus Christus ist die Erstlingsfrucht des großen Abrahamischen Verheißungsbundes, das heißt er ist das Haupt der Erstlingsfrucht. Alle, die ihm nachfolgen und treu erfunden werden, sind ebenfalls „Erstlingsfrucht”. - Jakobus 1:18 Aber sie sind nicht „Haupt”, sondern „Glieder”.

Ist nicht das Heil aus den Juden, wie in Johannes 4:22 geschrieben steht? Und ist nicht die Darbringung der Erstlingsgarbe aus der Gerstenernte wiederum eine der erquickenden Darstellungen und Vorbilder in der wunderbaren Harmonie des göttlichen Wortes?

Ruth arbeitet ausschließlich auf dem Acker des Herrn: Sie beginnt mit dem Ährenlesen zur Zeit der Gerstenernte. Und sie drückt den demütigen Wunsch aus, Eigentum des Boas, des Herrn zu werden, als jener auf der Gerstentenne worfelt. Wenn Ruth ein Bild der Braut Christi ist, so können wir annehmen, daß die Gerstenernte der erste zeitliche Abschnitt der geistigen Ernte des ganzen Evangeliumszeitalters darstellt, und ein Bild der Ernte Israels zur Zeit der ersten Gegenwart unseres Herrn ist. Lesen wir nicht in Apostelgeschichte 3:26 in der großen Rede des Petrus an das jüdische Volk: „Euch zuerst hat Gott … ihn (Jesus Christus) gesandt, euch zu segnen … .”? Schreibt nicht Paulus in Römer 3:2: „Was ist nun der Vorteil des Juden? … Viel, in jeder Hinsicht. Denn zuerst sind ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden.”

Schlußgedanken

Aber Ruth liest Ähren nicht nur auf dem Gerstenfeld; sie bleibt bis zum Ende der Weizenernte! „Die (Weizen-)Ernte aber ist die Vollendung des Zeitalters.” - Matthäus 13:39 Auch diese Hinweise zeigen uns, daß „Ruth” als ein Vorbild der Ecclesia Jesu Christi während des ganzen Evangeliumszeitalters gesehen werden darf. Erst, nachdem die Ernte vorüber ist, wird Ruth das Weib des Boas. Im geistigen Gegenbild wird die wahre Kirche Christi erst vollendet sein, wenn das letzte „Glied” seinen Weg der Nachfolge beendet und in die Herrlichkeit seines Herrn aufgenommen sein wird.

Naomi aber bleibt „in Bitternis”, bis aus der Verbindung von Boas und Ruth (des Herrn und seiner Braut) ein Sohn hervorgegangen ist. „Und die Frauen sprachen zu Naomi: Gepriesen sei Jahwe, der es dir heute nicht hat fehlen lassen an einem Löser, und sein Name werde gerühmt in Israel! Und er wird dir ein Erquicker der Seele (Buber übersetzt hier: „Seelenwiederbringer”) sein, und ein Versorger deines Alters …Und Naomi nahm das Kind und legte es auf ihren Schoß, und wurde seine Wärterin.” - Kapitel 4:14 - 16

Laßt uns überlegen: Was wird geschehen, wenn die Kirche Christi vollendet ist? Was wird das Resultat der Verbindung des himmlischen Bräutigams mit seiner Braut sein? Ist es nicht der Neue Bund, der dann eröffnet wird: der Weg zum ewigen Leben, das Anerbieten Gottes einer Rückkehr aller Menschen in Seine Ebenbildlichkeit, in Seine Harmonie? Und - ist dieser Neue Bund nicht dann die Erfüllung der vor viertausend Jahren gegebenen göttlichen Verheißung: „In dir und deinem Samen sollen gesegnet werden alle Nationen der Erde”?

Ja, Naomi-Israel wird diesen „Sohn” auf den Schoß nehmen und seine Wärterin sein. Denn der Neue Bund betrifft Israel zuerst, wie in Jeremia 31:31geschrieben steht; und Israel wird dessen „Wärterin” sein. Wunderbare Dinge sind von diesem Neuen Bund ausgesagt; das ganze Alte Testament ist voll davon. Denn letztlich - was „gebiert” dieser Neue Bund anderes als Leben? Köstliches, immerwährendes Leben in Gottes Gnade? Alle Menschen werden daran teilhaben dürfen: alle Lebenden und alle, die in den Gräbern sind und daraus hervorkommen werden (siehe Johannes 6:39), so wahr Gott lebt, und unser großer Löser Jesus Christus dafür bezahlt hat!

Gegen Ende der Ernte, solange „Boas” und „Ruth” noch nicht verheiratet sind, bleibt „Naomi-Mara” nicht ohne Trost. Boas läßt ihr durch Ruth sechs Maß Gerste zukommen. Warum Gerste, und nicht Weizen ? Gerste war zur damaligen Zeit das Brot der Armen; und, wie schon erwähnt: sechs ist die Zahl der Mühsal; sieben die Zahl der Erquickung: „Sechs Tage sollst du arbeiten …, am siebenten Tage sollst du ruhen.” Klingen uns bei dieser Darstellung nicht die Worte des Propheten im Ohr: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet zum Herzen Jerusalems und rufet ihr zu, daß ihre Mühsal vollendet, daß ihre Schuld abgetragen ist, daß sie von der Hand Jahwes Zwiefältiges empfangen hat für alle ihren Sünden.”? - Jesaja 40:1 und 2

Bleibt noch die Betrachtung der Orpa, der zweiten Schwiegertochter Naomis. Auch sie ist ihrer Schwiegermutter herzlich zugetan, doch hat sie nicht die Ausdauer und den Mut, ihr zu folgen. Sie ergreift nicht die goldene Gelegenheit, „unter den Flügeln” des Gottes Israels Schutz und Sicherheit zu finden. Sie wendet sich und kehrt „zu ihrem Volke und zu ihren Göttern” zurück. - Kapitel 1:15 Dazu geben die Worte von Sprüche 17:17 und 18:24 einiges zum Nachdenken:

„Der Freund liebt zu aller Zeit, und als Bruder für die Drangsal wird er geboren.” „Ein Mann vieler Freunde wird zugrunde gehen; doch es gibt einen, der liebt und anhänglicher ist als ein Bruder.” Paulus schreibt an Timotheus: „Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat.” - 2. Timotheus 4:10 Boas löst zwar Orpas Erbteil von Kiljon, sie selbst aber ist aus dem Gesichtsfeld Naomis und Ruths verschwunden und ist in ihrer früheren Welt untergetaucht.

Das Buch Ruth zeigt alles in allem tiefgreifende Verbindungen zu dem großen Werk des Herrn und seiner Braut. Jeder Nachfolger Christi findet in ihm die Wahrheit, die auch in der gegenwärtigen Zeit noch für ihn von Bedeutung ist. Denn diese Geschichte zeigt in bildlicher Weise Lektionen - eindringlicher als Worte - für die wesentlichen Schritte, die dem Jünger Jesu helfen, seine Berufung und Erwählung festzumachen.

Ruth sammelte ein ganzes Epha Gerste, was normalerweise unmöglich gewesen wäre, wenn nicht der Herr der Ernte die Schnitter angewiesen hätte, mehr Ähren als sonst liegenzulassen. Darum können alle, die jetzt im Ende der Erntezeit damit beschäftigt sind, „Ähren aufzusammeln”, völlig beruhigt sein, daß die Hand des Herrn ausreichend für sie sorgt. Die wahre Nahrung des Christen besteht in Gottes Gnade - besteht in jenem wahren „Brot des Lebens”, das aus dem Himmel herniedergekommen ist. - Johannes 6:51 Man findet diese Nahrung nur bei der Arbeit auf dem Acker des Herrn.

Wie bedeutungsvoll ist deshalb die Frage von Naomi an Ruth, die wir in Kapitel 2 Vers 19 lesen: „Wo hast du heute aufgelesen, und wo hast du gearbeitet?” Jeder Gläubige sollte sich diese Frage stellen: Wo habe ich heute aufgelesen? Wo habe ich heute gearbeitet? Wenn wir unseren täglichen Arbeitsplatz dem Dienste des Herrn geweiht haben, dann dürfen wir mit Ruth antworten: „Der Name des Mannes, bei dem ich heute gearbeitet habe, ist Boas. Ja, ich habe dem Boas gedient und bin seinen Anweisungen gefolgt.” Glücklich zu preisen ist, der das von sich sagen kann.

„Und Ruth, die Moabitin, sprach: Er, Boas, hat auch zu mir gesagt: Du sollst dich zu meinen Leuten halten, bis sie meine ganze Ernte eingebracht haben.” Ja, wir müssen bis zum Ende in Demut und in Treue ausharren - bis zum Ende der Ernte. Erst, wenn unser Hoherpriester das Webopfer von unseren Händen nimmt, können wir sagen: Es ist zu Ende. „Und sie hielt sich zu den Mägden des Boas, um aufzulesen, bis die Gerstenernte und die Weizenernte beendigt waren. Und sie wohnte bei ihrer Schwiegermutter.” - Vers 23 „Sie wohnte bei ihrer Schwiegermutter … .” Laßt uns daran denken, daß wir wilde Ölzweige sind, die in den Ölbaum des Herrn eingepfropft wurden, siehe Römer 11:18 - 20. Welch reiche Segnungen haben wir durch diesen „Ölbaum” erhalten!

So ist z. B. das wunderbare Buch der Bücher, das uns der Herr zur Verfügung gestellt hat, nicht ursprünglich unser. Die Juden hatten es erhalten; es gehörte ihnen. Aber ohne Glauben konnten sie ihren gegenbildlichen Boas, ihren Messias, nicht erkennen, noch konnten sie die Auswirkungen dessen sehen, daß Gott ein anderes Eigentumsvolk für Seinen Namen an ihre Stelle gesetzt hat.

Mögen uns die Haltung und die Handlungsweise, die Entschiedenheit und die demütige Glaubenstiefe Ruths immer als Vorbild gegenwärtig bleiben!



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung