Lichtstrahlen |
Jesus und die Samariterin
Johannes Kapitel 4
„Als nun der Herr erkannte, daß die Pharisäer gehört hatten, daß Jesus mehr Jünger mache … als Johannes, verließ er Judäa und zog wieder nach Galiläa.” - Verse 1 - 4 Jesus ist gewissermaßen auf der Flucht vor der geistigen Oberschicht zu Jerusalem. Schon Johannes mit seinem Massenzulauf ist diesen Leuten ein nicht geringes Ärgernis gewesen. Es hatte sehr gespannte Beziehungen zwischen Johannes und ihnen gegeben. Wenn er sogar jene, die sich von ihm taufen lassen wollten, mit den Worten empfängt: „Otternbrut! Wer hat euch gewiesen, dem kommenden Zorn zu entfliehen?” - Matthäus 3:7 - dann beschuldigt er sie der Unaufrichtigkeit.
Das Volk sah in Johannes den echten Propheten und Gesandten Gottes, und dieser überwältigenden Strömung mußte man ein Zugeständnis machen; man wagte es nicht, Johannes öffentlich anzugreifen. Hinter seinem Rücken tat man es aber doch. Woher kam sonst der Zorn des Täufers? Dieser war offensichtlich nicht in Unkenntnis der Umtriebe seiner Widersacher.
Aber auch Jesus sagt ihnen offen ins Gesicht, daß sie nicht an Johannes geglaubt haben. Trotz ihres zweideutigen Benehmens konnte das wohl niemandem entgehen. - Matthäus 21:24 - 27
Nun kam da einer, der anscheinend einen noch viel gewaltigeren Eindruck auf die Volksmassen machte als Johannes der Täufer. Das Ärgernis erneuerte sich; die Pharisäer umstellten Jesus mit ihren Spionen. Sie legten ihm Fallen und ließen seine Reden belauern, um belastendes Material zu sammeln. Jesus hielt es also für weise, diesen Leuten auszuweichen; denn seine Stunde war noch nicht gekommen. - Johannes 7:30 und 8:20
Auf dem Wege kommt Jesus durch die Landschaft Samaria. Seine Jünger hat er in eine benachbarte Ortschaft gesandt, um Speise einzukaufen, während er selbst am „Jakobsbrunnen”, einer durch Erinnerungen an den Patriarchen Jakob geheiligte Stätte, Rast macht. Es war Mittagszeit, und der Brunnen bot wohl einen beschatteten Ruheort. Da kommt ein Weib aus Samaria, um bei dem Brunnen Wasser zu schöpfen. Wir nehmen an, daß es eine noch junge, rüstige Frau ist; denn Wasserkrüge zu schleppen ist nicht ein Werk für gebrechliche, ältere Leute. Sie wird mit dem einsamen Wanderer einen Gruß tauschen.
Der erfahrene Menschenkenner wird ihr wohl sofort etwas Leichtfertiges, sittlich Verkommenes anmerken; und ein Mann, der etwas auf sein Ansehen hält, hätte sich möglicherweise gehütet, sich mit ihr in eine Unterredung einzulassen - vor allem aber ein strenger Jude, denen der gesellschaftliche Verkehr mit den religiös „unreinen” Samaritern verboten, oder zumindest verpönt war. Man kompromittiert sich also durch solche unstandesgemäße Beziehungen.
Für Jesus gilt eine solche Zurückhaltung nicht. Er kümmert sich nicht um seinen Ruf, er verkehrt auch mit Zöllnern und Sündern. Ja, gerade mit diesen, denn sie haben ihn nötig. Wenn nun diese Frau etwas sittlich Verwahrlostes in ihrem Wesen hat, wenn sie auf sumpfigem Grunde steht, dann bedarf sie ja der Hilfe; dann mag es dringend nötig sein, daß ihr eine helfende Hand entgegengestreckt wird. Jesus ist ja nicht gekommen, um „Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße”. Denn „die Gesunden bedürfen nicht eines Arztes, sondern die Kranken.” - Lukas 5:31 und 32
So eröffnet denn Jesus seinerseits das Gespräch: er bittet die Frau um einen Trunk Wassers. Diese ist sehr verwundert, daß ein jüdischer Mann sie nicht nur anredet, sondern sogar eine Gefälligkeit von ihr erbittet. Es tut ihr wohl, daß sie freundliche Beachtung und Anrede findet, wo sie nur kalten Gruß oder unverhohlene Mißachtung erwartet hatte. Sie gibt ihrer angenehmen Über-raschung Ausdruck mit den Worten: „Wie bittest du, der du ein Jude bist, von mir zu trinken, die ich ein samaritisches Weib bin?” - Vers 9
Jesus geht freundlich auf ihre Worte ein: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest, und wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so würdest du ihn gebeten haben, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.” - Vers 10 Das heißt etwa: Wenn du wüßtest, welche Gesinnung ich gegen dich und deine Landsleute habe, und was für eine Gelegenheit Gott dir jetzt schenkt, dann würdest du umgekehrt von mir Wasser erbitten. Und ich könnte dir allerdings ein Wasser geben, das dich in ganz anderer Weise zu beleben vermag als das, welches du aus diesem Brunnen schöpfst. Es ist also Jesus, der nun der Frau eine Gabe Wasser anbietet.
Was hat er im Sinn? Er sieht, daß die Frau hergekommen ist, um Wasser zu schöpfen. Jesus weiß: Das Bedürfnis dieser Frau geht ja tiefer, als sie selbst es weiß. Und es gibt etwas, das sie viel nötiger hat als dieses Wasser hier. Ich könnte es ihr geben, und ich möchte es ihr geben: die lebendig machende Wahrheit - das wahre Wasser des Lebens! Daß sie zu dem Brunnen gekommen ist, versteht der Herr sinnbildlich: Das ist eine Suchende. Er will ihr offenbaren, was sie sucht.
Die Frau kann diese Rede natürlich nicht verstehen. „Wie willst du mir Wasser geben, da du doch kein Schöpfgefäß hast?” - Vers 11 Und übrigens: Das da ist ein sehr gutes Wasser, das ich hier finde. Es ist die berühmte Jakobsquelle, aus der schon der Erzvater und seine Söhne getrunken haben. „Ein besseres Wasser wirst du in dieser Gegend nicht so bald finden!” - Vers 12
Das bezweifelt Jesus nicht. Aber: „Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wiederum dürsten; wer irgend aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht (mehr) dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt.” - Verse 13 und 14 Durch diese geheimnisvollen Worte hat der Herr die Begierde des Weibes erweckt, etwas mehr über dieses Wasser zu erfahren. Und sie bittet: „Herr, gib mir dieses Wasser!” - Vers 15
Gibt ihr nun der Herr das Verlangte und von ihm Angebotene? Nein; er lenkt anscheinend ab von der Sache: „Geh hin, rufe deinen Mann und komm hierher!” - Vers 16 Die Frau antwortet verwundert und sichtlich verlegen: „Ich habe keinen Mann.” - Vers 17 Jesus spricht zu ihr: „Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann, denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.” Was soll das bedeuten?
Der fremde Mann da weiß ganz genau Bescheid über die Geheimnisse ihres Lebens, die sogar den Nachbarn nur zum Teil bekannt sind. Fünf Männer hat sie gehabt. Sind sie gestorben? Das Weib hat sie verlassen. Sie geht von einem zum anderen. Und jetzt lebt sie mit einem Mann, der auch nicht ihr Mann ist. Also wohl gar der Mann einer anderen? Diese Frau lebt im Ehebruch.
Mit einem einzigen Satz hat der Fremde hier Dunkelheiten und Abgründe ihres Lebens ins grelle Tageslicht gezogen. Sie ist durchschaut, erkannt, bloßgestellt! Vor diesen Augen ist nichts verborgen! Gott selbst hat in das Dunkel ihres sündigen Lebens hineingeleuchtet! Ganz unsinnig wäre es, hier leugnen zu wollen. Da kann man nur schweigen, nur noch gestehen: Es ist, wie du sagst. „Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist.” Du weißt, was nur Gott wissen kann. Ich bin erkannt! - Sie glaubt sofort.
Aber merkwürdigerweise ist die Frau nicht bestürzt, nicht beleidigt, gekränkt. Dieser Fremde da hält ihr ja keine Strafpredigt. Er hat nur eben festgestellt, was Tatsache ist. Er knüpft keine Moralpredigt an, er verdammt nicht in Grund und Boden. Seine Freundlichkeit ist dieselbe geblieben, die er von Anfang an ihr gegenüber bekundet hat. In seinem Verhalten liegt kein Vorwurf, sondern gütige Teilnahme. Und wie muß diese nun erst die Frau berühren, nachdem sie erkannt hat, daß der Fremde sie nicht etwa überschätzt. Nein, trotz seiner genauen Kenntnis ihres höchst anstößigen Lebenswandels hat er sie mit Güte und Menschlichkeit behandelt. Und seine Freundlichkeit hat sich auch jetzt nicht vermindert.
Die Frau - statt vor diesem sie durchschauenden Menschen zu erschrecken - faßt vielmehr ein tiefes Zutrauen zu ihm. Da dürfte sie vielleicht einmal von ihren inneren Nöten reden, die sie bedrängen, ohne daß sie einer anderen Menschenseele etwas davon zu bekennen wagt. Du bist ein Gottesmann! Auch ich glaube an Gott und suche ihn. Kannst du mir etwa den rechten Weg zu ihm weisen? „Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr saget, daß in Jerusalem der Ort sei, wo man anbeten müsse.” - Vers 20
Diese Frau sucht eine geistige Orientierung. Sie hat Vertrauen zu dem Fremden, daß er etwas von dieser Sache verstehen dürfte. Wenn er ihr den Rat gibt, den lebendigen Gott in Israel zu suchen, eine Jüdin zu werden - wer weiß? Vielleicht entschließt sie sich dazu. Sie hat ein Verlangen nach dem rechten Weg, ungeachtet all ihrer Verirrungen.
Was hat es nun mit dieser Gottesverehrung auf dem „Berge” oder in Jerusalem auf sich? Wir sehen, daß es nach der alttestamentlichen Überlieferung manche Orte in Israel gab, die durch Erinnerung an wichtige Gottesoffenbarungen geheiligt waren. So der Ort Bethel, wo Jakob auf seiner Flucht vor Esau den Traum von der Himmelsleiter geträumt hatte; so Hebron, wo Abraham gewohnt und Gott einen Altar errichtet hatte. Es war natürlich, daß der gläubige Israelit sich an einer solchen Stätte dem Gott seiner Väter näher fühlte als anderswo. Wenn er solche durch das Wirken und Erleben der Erzväter und Propheten geheiligte Stätten zum Gebet aufsuchte, so tat sich darin ein berechtigter Gedanke kund: Der Gläubige wünschte mit dem in der Geschichte geoffenbarten Gott Jahwe in Verbindung zu treten, nicht aber mit einem Gott seiner eigenen Vorstellung oder Phantasie oder seines Gefühls. Er suchte an solchen Orten, wo Gott sich kundgetan hatte, eben diesen lebendigen und wirklichen, außerhalb seines persönlichen Gefühls wohnenden Gott auf.
Auch das hatte einen guten Sinn, daß der Israelit wenigstens einmal des Jahres hinauf nach Jerusalem zog, um dort mit dem Bundesgott seines Volkes in Berührung zu kommen. Denn Jahwe war ja nicht der persönliche Gott des Juden; Er war der Gott des Volkes Israel, und jeder einzelne hatte an diesem Gott nur Anteil insofern, als er ein Glied des Volkes war. Jahwe handelte nicht mit jedem einzelnen Juden, sondern mit dem Volk. Er handelte mit dem einzelnen nur insofern, als Er Anteil nahm am Geschick der Gesamtheit. Somit war es ein richtiger Gedanke, wenn der Israelit sich sagte: In Jerusalem, im nationalen Mittelpunkt des Volkes Israel, stehe ich meinem Volksgott näher als an irgendeiner Stätte des Landes. Das schloß natürlich nicht aus, daß der Israelit an jedem Orte, wo er sich aufhielt, sein Gebet verrichten konnte; aber wo möglich sollte er auch von Zeit zu Zeit im Tempel in Jerusalem, dem nationalen Heiligtum, seinen Gott suchen.
Wenn nun aber Jesus der Samariterin erklärt. „Es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berge, noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. … Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter”, dann kündigt der Herr damit nichts weniger als einen grundlegenden Wandel in den Glaubensverhältnissen an. Er erklärt damit dem Weibe, daß es jetzt nicht mehr unbedingt nötig sei, daß sie eine Jüdin werde, um dem lebendigen Gott Jahwe nahe zu kommen. Irgendeinmal in der Vergangenheit wäre das wohl der richtige Weg gewesen, um Gott zu nahen. Jetzt aber eröffnet sich eine ganz neue Möglichkeit: Gott sucht jetzt solche Anbeter, die Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.
Jesus verrät uns damit den Gedanken, daß mit ihm eine neue Heilszeit begonnen hat; daß die Zeit der ausschließlichen Begnadigung Israels vorüber ist, und daß nunmehr aus allen Nationen die Wahrheitssuchenden einen offenen Weg zum einen und wahren Gott aller Menschen finden können. Damit verlieren die Stätten der nationalen Gottes-offenbarungen in Israel ihre Bedeutung; damit verlieren auch Jerusalem und der Tempel daselbst alle Wichtigkeit. Geoffenbart ist Gott jetzt in dem Sohne Jesus Christus, und diese Offenbarung gehört nicht dem Volke Israel - sie gehört der ganzen Welt. Darum wird man von nun an nicht mehr auf dem Berge Garizim oder in Jerusalem die Verbindung mit Gott suchen, sondern in Jesu Christo, dem Sohne und Gesandten Gottes.
Den Vater „im Geiste und in der Wahrheit anbeten” heißt gar nichts anderes, als ein klares Verständnis von den Heilsabsichten Gottes in Christo zu gewinnen; das heißt: ab nun aufgrund dieses Verständnisses der Liebe und Gnade Gottes diesem Gott und Vater aus dankbarem und befreiten Herzen die Verehrung und Ergebenheit zu zollen, die man Ihm vordem höchstens aus einem dunklen Gefühl „religiöser Verpflichtung” heraus dargebracht hat.
Solche Anbeter, die durch die Annahme der Evangeliumsbotschaft zu spontanen und dankbaren Verehrern Gottes werden, die sucht fortan Gott. Und somit ist es ganz überflüssig für die Samariterin, den Weg über das Judentum zu nehmen, um dem wahren Gott zu nahen.
Die Neuerung des Paulus, daß das Evangelium für alle Nationen bestimmt sei, wird also in diesen Worten bereits mit aller wünschenswerten Deutlichkeit von Jesus selbst vorgetragen. Daß Gottes Ruf nun an die Wahrheitssuchenden in aller Welt ergeht, daß Gott auf der Suche nach erkennenden Anbetern ist, daß Er eine Gemeinde und Herauswahl als Braut für Seinen Sohn sucht - das alles ist in den Worten Jesu schon enthalten. Aber wer verstand sie damals?
Und warum ist es enthalten? Für Jesus ist diese Begegnung mit der Samariterin, der Fremdvölkischen, kein Zufall. Gott zeigt dem Sohn hier im Bilde, daß außerhalb Israels Heilshungrige und Wahrheitsdürstende auf ihn warten. Und eben in dieser Begegnung wird es dem Herrn deutlich, daß seine Sendung ebensogut zu den Nationen als zu Israel ergeht. Es wird ihm deutlich, daß er gesandt ist, um auch den Nationen sein Licht und seine Wahrheit anzubieten. Aus dieser Erkenntnis heraus bietet er ungebeten der Samariterin das „lebendige Wasser” der Wahrheit an.
Zwar weiß Jesus sehr wohl, daß er zu niemandem anderen gesandt ist außer zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel”. - Matthäus 15:24 Er weiß aber auch, daß das in religiösem Formenwesen erstarrte Israel, vertreten durch seine religiösen Führer, den Messias Gottes nicht anerkennen, sondern verwerfen und als Gottes-lästerer ans Kreuz schlagen wird. Es ist ihm auch klar, daß infolgedessen das von Israel zurückgewiesene Evangelium zu den Nationen gehen muß. Es ist zwar noch nicht im eigentlichen Sinne „gegenwärtige Wahrheit”, was Jesus durch seine Erklärungen der Samariterin verkündigt. Aber ihm ist aufgetragen, wenigstens schon im Bilde die Wahrheit von morgen anzudeuten.
Wer sollte es denn sonst tun? „Ihr betet an, und wisset nicht was; wir beten an, und wissen, was wir kennen”, sagt Jesus zu der Halbheidin. Diese hat verstanden, daß der jüdische Mann ihr also nicht das Judentum als einzigen Heilsweg anpreisen will; er redet vielmehr von einem neuen Weg des Heils. Dadurch wird sie an das erinnert, was man ihr vom kommenden Messias verkündet hat: „Wenn jener kommt, wird er uns alles verkündigen.” - Vers 25 Der, von dem schon Moses geweissagt hat, daß er kommen werde aus der Mitte seiner Brüder, und daß man auf diesen hören solle - 5. Mose 18:15 -, der wird allen Glaubenden den Weg zum Leben weisen.
Da eröffnet Jesus der Fremdvölkischen, daß er der Messias sei: „Ich bin’s, der mit dir redet.” - Vers 26
Wir sind neugierig, welchen Verlauf jetzt das Gespräch nehmen wird. Aber es wird plötzlich abgebrochen; denn jetzt kommen die Jünger zurück, die sich verwundern, daß der Herr mit dem Weibe, einer Samariterin, redet. Sie äußern zwar ihr Befinden nicht. Die Samariterin aber läßt den Krug stehen und eilt zu ihren Angehörigen, um ihnen von der wunderbaren Begegnung zu erzählen: „Kommet, sehet einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was irgend ich getan habe; dieser ist doch nicht etwas der Christus?” - Vers 29
Sie erweckt die Neugier der Samariter, so daß diese in Scharen hinauswandern, um Jesus zu sehen. Und sie finden, indem sie Jesu Worten lauschen, die Rede des Weibes, daß da ein wahrer Prophet sei, bestätigt und bitten den Herrn, bei ihnen länger zu verweilen. Jesus willigt ein, zwei Tage daselbst - bei Nichtjuden! - zu bleiben, doppelt befremdend, wenn man sich seiner Instruktion an die Apostel erinnert: „Gehet nicht auf einen Weg der Nationen, und gehet nicht in eine Stadt der Samariter!” - Matthäus 10:5 „Wir glauben nun nicht mehr um deines Redens willen, denn wir selbst haben gehört und wissen, daß dieser der Heiland der Welt ist”, bekennen die Heiden. - Vers 42
Wir haben bereits angedeutet, daß die Begegnung Jesu mit der Samariterin auch noch verborgene Wahrheit enthält: daß Jesus sich durch diese Begegnung aufgefordert sieht, sein Evangelium über die Grenze des Judentums hinaus in die Welt der anderen Völker zu tragen. In der Samariterin erblickt der Herr die Wahrheitsdürstende aus den Nationen. Diese kennen auch „Wahrheit”. Ihre Wahrheitslehrer haben ihnen wertvolle Wahrheiten geoffenbart - manches Tiefe, Vernünftige, Edle ist von einem Sokrates, einem Plato und anderen gesagt worden. Immerhin: Wenn man von diesem Wasser trinkt, so dürstet einen wieder, und man muß immer aufs neue zum Brunnen laufen. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, daß die Wahrheitsfrage nicht gelöst ist, daß man wieder von vorne anfangen muß mit Forschen und Suchen. So geht man von einem zum anderen.
Nun aber bietet der Christus das Wasser des Lebens an; nicht Wahrheiten, sondern die Wahrheit, die alle Fragen dem Glaubenden ein für allemal löst. Wer dieses Wasser empfangen hat, der wird nie mehr vor Durst verschmachten. Er hat eine Wasserquelle gewonnen, die nicht nur für den Rest dieses Lebens Labung und Erquickung sichert, sondern selbst über dieses zeitliche Leben hinaus zu erquicken vermag. Denn die Wahrheit des Evangeliums sichert das Auferstehungsleben zu, und der Auferstandene wird sich von demselben Wasserquell laben, der ihm schon hier den Wahrheits- und Lebensdurst gestillt hat.
Was bedeutet es, daß das Weib fünf Männer hatte und nun mit dem sechsten lebt? Der Mann ist des Weibes Haupt. - Epheser 5:23 Er ist ihr „Gott”. Diese Samariterin aber „hat keinen Mann”, so wie die Nationen keinen „Gott” haben - sie haben „Götter”. Auch heute noch hat die Welt „Götter”, aber keinen „Gott”. Natürlich ist das ein sündiger Zustand, in dem die Nationen leben; aber davon ist ihnen wenig bewußt. Den Gläubigen aber macht es Jesus erkennbar, daß es Abfall vom wahren Gott und Ehebruch ist, worin die ungläubige Welt sich befindet. Aber nicht als Richter naht er der Welt, sondern als guter Hirte, der das verlorene Schaf sucht, bis er es findet als „Heiland der Welt”.
Der Christus selbst muß sein Lebenswasser den Nationen anbieten; sie können ja nicht wissen, daß es so etwas gibt. So sendet er denn seine Kirche, seine Apostel in alle Welt, um denen zu predigen, die nie von einer prophetischen Verkündigung des Messias gehört haben. Christus findet unmittelbaren Zugang zu allen Menschen. Es bedarf ja nicht des „Bundesvolkes”, Israels, als eines Vermittlers.
Hier ist von Bedeutung, daß Jesus der Samariterin ganz allein gegenübertritt, ohne seinen jüdischen Anhang. Christus findet die Samariterin bereit, das Angebot anzunehmen. Bevor aber Jesus ihr das Wasser darreicht, muß noch eine Vorbereitung geschehen. Die Fremdvölkische muß wissen, wer sie ist, und daß der genau über ihren moralischen Stand unterrrichtet ist, der ihr ein so großes Anerbieten macht. Jesus wendet sich an Sünder - an die Menschen, die eine Erfahrung ihrer eigenen Unzulänglichkeit und mangelhaften Gerechtigkeit gewonnen haben. Das Evangelium kann nur Sündern etwas geben; Gerechten hat es absolut nichts Wertvolles mitzuteilen. So muß das Licht Jesu die Berufenen zuerst durchleuchten, bevor er ihnen durch das Evangelium das Lebenswasser spenden kann. Im Lichte der frohen Botschaft selbst erkennt sich der Mensch als Verlorenen, der die ausgestreckte Hand Gottes In Jesu Christo zu ergreifen hat, damit er errettet werde.
Die Samariterin muß eine Sünderin sein, wenn sie ein Bild der Kirche sein soll. Dann aber, nachdem sie sich erkannt gesehen hat von dem, der mit ihr spricht, ist sie doppelt gerührt von der Güte und Nachsicht des Fremden und von unergründlichem Vertrauen in ihn erfaßt. So ergeht es dem Sünder unter den Nationen. Und jetzt offenbart sich Jesus ihr ohne Zurückhaltung. Als die Jünger herankommen, fühlen sie sich befremdet darüber, daß Jesus mit einem Weibe redet. In gleicher Weise hat sich die jüdische Frühkirche zunächst durch den Gedanken befremdet gefühlt, daß die Nationen ohne alle Umstände das Evangelium hören sollen - daß man die Gläubigen aus den Heiden nicht einmal dazu auffordern müsse, zum Judentum überzutreten.
Dem Herrn ist der geheime Sinn dieser Begegnung offensichtlich deutlich geworden. Er erkennt: Ich habe nicht nur aus Israel eine Ernte einzubringen, sondern aus der ganzen Welt der Nationen. Die ungeheure Ausbreitung seiner Wirksamkeit tritt ihm in einer überwältigenden Weise vor das innere Auge. Dies ist der Sinn, wenn er nun die Jünger auf die gewaltige wartende Ernte hinweist. „Hebet eure Augen auf und schauet die Felder an, denn sie sind schon weiß zur Ernte.” - Vers 35 Man wartet auf das Evangelium, nicht allein in Israel, sondern in der ganzen Welt. Die Apostel, deren Sinne und Blicke durch den jüdischen Horizont begrenzt sind, haben keine Vorstellung davon, was für ein Ernteertrag ihnen zufallen wird. Sie werden alle Hände voll zu tun haben, um ihn einzubringen. Sozusagen mühelos fällt ihnen dieser Ertrag zu; denn die Welt wartet auf das Evangelium. Auch sie ist im höchsten Reifezustand, um diese Wahrheit entgegenzunehmen. So werden die Apostel ernten, wo sie nicht gesät haben. - siehe Verse 37 und 38
Wer hat denn gesät? Jesus selbst hat gesät. Er hat das Weizenkorn in die Erde gelegt, auf daß es sterbe und dadurch viel Frucht bringe. - Johannes 12:24 Indem Jesu in der Samariterin die „Herauswahl aus den Nationen” vor den inneren Blick tritt, erkennt er, welche Frucht aus seinem Opfer aufkeimen wird - welche Überfülle an Frucht! Diese Erkenntnis bildet offenbar eine gewaltige Ermutigung und Stärkung für unseren Herrn. Als die Jünger Nahrung aus der Stadt bringen, bieten sie dem Meister zu essen an.Er aber weist ihre Nahrung zurück mit den Worten: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennet. … Meine Speise ist, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe.” - Verse 32 und 34 Sein Opfer ist das Werk, das ihm aufgetragen ist. Indem Jesus auf die Überfülle der Frucht hinblickt, fühlt er sich innerlich gestärkt zur Erfüllung seines Erlösungswerkes. Darum bedarf er nicht der Speise.
Ähnlich ist es soeben auch der Samariterin ergangen. Sie läßt - nachdem ihr der Messias geoffenbart worden ist - den Wasserkrug stehen und eilt hin, um ihren Freunden von ihrer wunderbaren Begegnung zu erzählen. Sie hat allbereits etwas von jenem Wasser des Lebens empfangen, das der Fremde ihr verheißen hatte, so daß sie nicht mehr an den leiblichen Durst denkt.
Und nun kommen die Scharen der Samariter heraus zu Jesus. „Die Kirche”, das Weib, hat sie herbeigerufen. Und die „Nationen” bitten nun Jesus, bei ihnen zu verweilen. Er ist auf der Flucht vor den „Juden”; aber die Nichtjuden bitten ihn, bei ihnen zu bleiben. Sein Volk hat ihn verworfen; darum bietet er das Heil den Nationen an, und diese bitten Christus, bei ihnen einzukehren und zu verweilen. „Und er blieb daselbst zwei Tage.” - Vers 40
Zwei Jahrtausende (fast) hat sich Jesus Christus unter den Nationen aufgehalten; dann erst wird er sich wieder seinem Volke Israel zuwenden.
Und alle, die ihn gehört haben unter den „Samaritern” (Nationen), erklären: Wir glauben, daß er der Heiland der Welt ist, und nicht allein um des Zeugnisses des Weibes willen (siehe Vers 39); denn wir selbst haben gehört.
Jesus ist kein Nationalprophet; Gott ist kein Gott nur eines Volkes mehr. Jesus ist der „Heiland der Welt”, und Gott ist der Gott aller Völker. Er offenbart sich durch den Geist jedem einzelnen, der zu Ihm in Beziehung tritt. Keine kirchenstaatliche Institution schiebt sich als Mittelglied zwischen den Gläubigen und den, der sich in Christo offenbaren wollte - und geoffenbart hat. Ja, gerade die wahre Kirche Christi, die Herauswahl aus den Nationen, erkennt keinen anderen Mittler zwischen Gott und Menschen außer dem einen, dem das Mittleramt übertragen wurde, dem Menschen Christus Jesus, der sich selbst gab als Lösegeld für alle. - siehe 1. Timotheus 2:5 und 6