Die Kraft, die in der Schwäche liegt

Um das auszurichten, was Jesus durch uns ausgerichtet haben will, brauchen wir weder Gesundheit noch Kraft noch andere Gaben als die, die wir mit auf die Welt gebracht haben, noch eine andere Erziehung und Bildung, als wir sie eben besitzen. Denn die Wirkungen, die wir hervorbringen sollen, hängen nicht von uns ab, sondern von der Gnade des Herrn, das heißt davon, ob er uns als Werkzeuge gebrauchen will - oder nicht gebrauchen will. Die besten Fähigkeiten, die reichsten persönlichen Vorzüge nützen im Werk des Herrn gar nichts, wenn Er nicht davon Gebrauch macht, wenn seine Gnade, sein Mitgehen und Mitwirken fehlen.

„Daher”, sagt Paulus, „will ich am allerliebsten mich meiner Schwachheit rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Verfolgungen, an Ängsten für Christum; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.” - 2. Korinther 12:9 und 10

Je geringer mein Selbstwertgefühl und meine Selbstzufriedenheit sind, desto besser kann Christus durch mich wirken. Damit wird gesagt, daß jede Selbstzufriedenheit, jedes persönliche Kraftgefühl, jede vermeintliche Sicherheit dem Herrn im Wege sind oder sein können. Das heißt zwar nicht, daß Paulus Untüchtigkeit und Unfähigkeit zu seinem Apostelamt braucht; das wäre Irrtum. Nein, Paulus braucht Begabung und Talente, aber diese stehen so vielen augenfälligen Schwachheiten, Gesundheitsmängeln, Hemmungen aller Art, auch äußeren Nachteilen wie Diskreditierungen und Verfolgungen gegenüber, daß sie dem Apostel keine äußere Sicherheit, kein Selbstvertrauen und kein Kraftgefühl erlauben, und - auf den ersten Blick - nicht den Eindruck einer selbstbewußten und selbstgesicherten Persönlichkeit erwecken.

Es entsteht eher der Eindruck eines gedrückten, gebrechlichen Menschen, dem jeder äußere Glanz geradezu fehlt. Paulus imponierte den meisten Brüdern nicht sonderlich. Sagte er doch einmal: „Als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit … . Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur Jesum Christum, und ihn als gekreuzigt. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern; und meine Rede und meine Predigt war nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft.” - 1. Korinther 2:1 - 4

Das war etwas! Ja, es war viel! Der Hörer mochte die übliche Rednergeschicklichkeit, das Hinreißende, Berauschende vermissen. Paulus dagegen sprach besonnen, und manchmal sich besinnend. Für die meisten vielleicht etwas trocken und schwer verständlich. Bemerkt doch sogar Petrus, daß manches in seinen Briefen schwer zu verstehen sei, und daß vieles falsch verstanden und verdreht wurde, weil es auch nicht einfach und oberflächlich sei. - 2. Petrus 3:16

Einen Paulusbrief liest man nicht wie einen Roman, er ist harte Kost, und verlangt ernsthaftes Studium.

Aber Paulus darf sagen: „Meine Rede bestand nicht einfach in überredenden Worten, sondern „in Erweisung des Geistes und der Kraft”; das heißt, ich rede, um zu zeigen, daß der Wahrheit eine innere Logik zugrunde liegt, und daß davon Überzeugungskraft ausgeht - und kein Strohfeuer der Erregung. Ich rede so, daß Fragen beantwortet werden, an die manche gar nicht gedacht haben - und daß Fragen beantwortet werden, endgültig, beruhigend, Sicherheit gebend. Ich suche nicht nur mit Scheingründen eine Antwort zu erteilen, sondern - als von Gott erleuchtet - eine volle Befriedigung in dem Wahrheitshungrigen zu erzeugen.

Die Predigt des Paulus

Was ich predige, ist einfach: „Jesum Christum, und ihn als gekreuzigt.”

Was heißt das? Es heißt: ich komme nicht mit einem fertigen Gedankensystem, einer ausgeklügelten Philosophie, sondern mit einer geschichtlichen Tatsache, die aber unendlich viel zu denken gibt und Licht wirft auf große Geheimnisse Gottes und auf die Rätsel des Menschenlebens! Jesus ist der Messias, König aus dem Hause Davids; er ist der von Gott verheißene Prophet, größer als Moses, auf den alle dann unbedingt hören müssen zu ihrer Errettung.

Und dieser Messias ist von den Juden gekreuzigt worden, und gerade auf diesem Wege sollte das wahre Heil, die Errettung, zu Israel und zu aller Welt kommen. In diesem unfaßlichen Unheil der Kreuzigung lag nun Gottes Weg der Errettung; in der allerschwersten Sünde lag das Ende der Sünde begründet.

Das Volk Gottes, das durch Sein Gesetz geführte, durch Seine Propheten gescholtene und aufgeklärte und zurechtgewiesene Volk Israel - es hat sich an dem zu ihnen gesandten Erretter schuldig gemacht! Die Kreuzigung Jesu hat die Nutzlosigkeit des Gesetzes zur Überwindung der Sünde offenbar gemacht und damit ein für allemal gezeigt, daß durch Gesetzeswerke das Heil nicht zu erlangen ist.

Was ergibt sich daraus? Daß der Mensch auf die Gnade Gottes angewiesen ist - auf unverdiente Errettung.

Und wodurch könnte nun diese Tatsache deutlicher sichtbar werden als darin, daß Gott die Kreuzigung Seines geliebten Sohnes zur Tilgung der menschlichen Sündenschuld zugelassen hat?

So redet Gott. Das ist die Sprache des Geistes. Sie zwingt zum Denken. Wenn der Mensch mit seiner Logik am Ende ist, dann fängt die Logik Gottes an. Gott macht nicht endlose Worte. Er redet mit befremdenden Taten, Ereignissen. Diese Ereignisse reden dann fort und fort; sie lassen nicht in Ruhe.

Das ist die Predigt des Paulus: Jesus, der Messias - der Messias gekreuzigt - der Gekreuzigte auferstanden - der Auferstandene wird verkündet als Erlöser der Welt von einer Schar unentwegter Zeugen! Paulus, einst Verfolger und Mörder dieser Zeugen - bis eine Stimme vom Himmel ihm Halt gebietet: So kann es nicht weitergehen! „Was verfolgst du mich”, mich, den Messias, auf den du als Israelit hoffst als auf das Heil Israels und der Welt? Kehre um!

Die Umkehr des Paulus

Das ist das Erlebnis des Paulus. Er lief in die Finsternis hinein, und es wurde finster und finsterer um ihn; zuletzt sah er gar nichts mehr. Er mußte umkehren. Und nun wurde es licht und lichter, und schließlich kam eine überwältigende Lichtfülle über ihn, überirdisches Licht, daß er nicht wußte, ob er noch auf Erden sei. Alle Fragen sind gelöst! Er braucht gar nichts zu denken; es denkt in ihm! Die Wahrheit ist so übermächtig vor seinen Augen - er wird nicht mehr nötig haben, zu studieren. Die ganze Schrift ist zu seiner Verfügung, alle Worte fallen ihm ein. Alles harmonisch, alles verständlich, alles Wahrheit: Jesus, der Sohn Gottes, von Gott in die Welt gesandt als Mensch, getötet nach dem Fleische, auferweckt nach dem Geiste, erhöht zur Rechten Gottes, Mittler des Neuen Bundes durch sein vergossenes Blut, das die Sünde wegnimmt. Darüber läßt sich ein Leben lang predigen. Unerschöpfliches, unergründliches Thema: Die Wahrheit.

Was ist Paulus? Nichts! Jesus hat ihn erst recht zu nichts gemacht. Vorher war er ein Pharisäer; er war ein brauchbares Werkzeug der Gegner der Wahrheit! Wer sind die Gegner der Wahrheit? Die Welt! Sie will weiterbestehen, so, wie sie ist, und das kann nur in Gegnerschaft gegen die Wahrheit geschehen.

Die Welt täuscht sich, wenn sie meint, eine gemäßigte Anerkennung der Wahrheit, eine gut dosierte Mischung zwischen Gottes-Dienst und Baals-Dienst sei das Sicherste, Gesündeste, und garantiere am besten den Fortbestand unserer Kultur und unser Wohlergehen.

Das ist die Welt - und Weltweisheit. Die Propheten Gottes haben unermüdlich gegen diese Halbwahrheit gekämpft. „Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten? Wenn Jahwe Gott ist, so wandelt ihm nach; wenn aber der Baal, so wandelt ihm nach.” - 1. Könige 18:21

Jesus sagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.” - Johannes 18:36 Und Paulus: „Seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, daß ihr prüfen möget, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.” - Römer 12:2 In Jakobus 4:4 lesen wir: „Wisset ihr nicht, daß die Freundschaft der Welt Feindschaft wider Gott ist? Wer nun irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich als einen Feind Gottes dar.”

Nicht Verdienst, sondern Gnade

Wir haben von den Gegnern der Wahrheit gesprochen. Es ist die Welt schlechthin. Es sind die, die „etwas sind”. Alle in der Welt wollen etwas sein. Sie wollen den Fortbestand dieser Welt, weil sie hier etwas sind, sein wollen und sein können. Sie wollen nicht unbedingt das Reich Gottes, auch als Fromme nicht, weil sie im Reiche Gottes nichts mehr sind. Dort will nur Gott etwas sein. Und wenn Gott dienende Kräfte braucht, so will er nur solche, die nichts sind. Durch Jesus Christus hat Gott alle zu Nichtsen gemacht. Jesus sagt: „Niemand kommt zum Vater, als nur durch mich.” „Ich bin die Tür.” „Es sei denn, daß ihr das Fleisch des Sohnes des Menschen esset und sein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch selbst.” Johannes 14:6, 10:7 und 6:53

So macht Jesus uns alle von der Gnade Gottes in Christo abhängig. Wer zum Vater kommen will, muß durch das Nichtssein hindurch. Alles fällt ihm nur aus Gnade zu, nichts aus Verdienst.

Die Gnade ist dem verhaßt, der etwas ist oder sein will. „Ich bin Manns genug, mich selbständig zu ernähren. Was soll ich da um Gnadenbrot betteln? Was brauche ich Gnade, wenn ich in den Wegen des Rechts bleibe? Was tue ich denn Unrechtes? Ich morde nicht, ich stehle nicht, ich betrüge nicht. Warum will man mich unbedingt als Sünder abstempeln? Warum - und vor wem - soll ich mich demütigen?” So fühlt die Welt im allgemeinen. Man ist in Ordnung; das genügt.

Für diese ist Christus nicht gestorben. Noch nicht! Denn es kommt der Tag, an dem die ganze Welt merken wird, daß sie nicht sauber genug ist. Es kann etwas passieren, das auf einmal ganze Völker schuldig werden läßt. Es kommt die Stunde, in der Fromme und Unfromme froh sein werden, daß da schon einer war, der für ihre Sünde gestorben ist, daß es Sündenvergebung gibt, daß es eine Gnade gibt. Es kommt die Stunde, da die Welt merkt, daß sie im Schmutz wandelt; daß man im Schmutz umkommt. Es kommt die Stunde, in der die Trauer über die Sünde, der Schmerz über die Unwahrheit des eigenen Lebens, die Reue über die Lieblosigkeit des eigenen Herzens und die Scham über die Geringschätzung der Gnade Gottes mehr schmerzen werden als alles andere. Man wird von der Gnade Gottes überwältigt sein.

An jenem Tage werden alle Menschen gewahr werden, daß sie nackt sind, und sie werden sich bedecken wollen. Nachdem die ersten Menschen gesündigt hatten, sahen sie, „daß sie nackt waren”. Sie schämten sich und machten sich Schürzen aus Feigenblättern. Sie wollten sich nicht mehr zeigen, wie sie nun waren: ungerecht und mit Schuld beladen. Was nützten da die Schürzen? Sie offenbarten erst recht ihren Mangel. Sie sind Symbol für schlechtes Gewissen. Auch unsere Kleider sind das. Auch diese verwandeln sich in Lumpen, und - geistig gesprochen - geht der Mensch immer mindestens unreinlich herum. Er hat nie ein ganz sauberes Gewissen, in den besten „Kleidern” nicht.

Am ehesten greifen die, die „zerbrochenen Herzens und zerschlagenen Geistes” sind, nach dem soliden und dauerhaften Gewand, das ihnen in dem „Kleid der Gerechtigkeit Jesu Christi” angeboten wird. Mit Christi Gerechtigkeit bekleidet, ist der Mensch nicht mehr nackt. Sein Gott wird ihm zur Gerechtigkeit, indem Er ihn bekleidet mit dem Verdienst, mit der Gerechtigkeit Seines Sohnes Jesu Christi, der uns von der Sünde losgekauft hat.

Der Begnadigte

Unter die Gnade gestellt, ist der Mensch zu nichts gemacht. Er wird zu einem Wesen, das auf gar keinen Fall aus irgend etwas Eigenem existiert, weder aus eigenen Leistungen noch aus eigenen Verdiensten; da gibt es auch keine „Selbstbewußtseins-Stärkung” noch „Selbstverwirklichung”, und schon gar keine „Höherentwicklung” durch eigene Anstrengung. Wer weiß, daß er der göttlichen Gnade bedarf und ihrer teilhaftig geworden ist, der ist sich auch bewußt, daß er nichts anderes tun kann, als Gott in sich wirken zu lassen. Das heißt also: zu glauben, zu hoffen, zu lieben, zu dulden, zu ertragen, zu leiden - und auf die Hilfe des Herrn zu warten.

Wenn der Begnadete von der göttlichen Wahrheit reden will, soll er sich die Rede vom Herrn geben lassen; und wenn er denkt, soll er sich die Gedanken vom Geist des Herrn schenken lassen. Gott gegenüber kommt es weder auf Intelligenz noch auf die Masse „guter Werke” an. Wichtig allein sind unsere Entscheidungen, und diese sollten im Geiste Christi getroffen werden. Die tatsächliche „Leistung” liegt bei uns nur insofern, als uns Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung gestellt sind, die wir einsetzen können.

So mag der Ungläubige den Begnadigten als einen Schwächling ansehen, der nicht fähig ist, sich im Leben selbst zu behaupten, es „zu etwas zu bringen”, der Welt etwas „Bedeutendes” zu hinterlassen.

Die Wirklichkeit hat etwas Gegenteiliges zu berichten. Durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch hat sich starker Glaube - das ist: völliges Vertrauen in Gott - immer wieder als unüberwindliche Kraft erwiesen. Und das hat sich bis in unsere Tage hinein nicht geändert.

In schwierigen Situationen, seien es Krankheit oder Verfolgung, Armut oder sonstige Bedrängnisse, wird der vermeintlich Schwache zum Giganten, zum Überwinder jeglichen Übels; wenn er nur Gott in sich ganz und gar wirken läßt, wenn er nichts von seinem „Ich will” zurückbehält. „Meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht”, sagt Paulus.

Gottvertrauen - das ist wahre innere Freiheit, die Paulus in den Worten bekundet: „Ich weiß, sowohl Überfluß zu haben als erniedrigt zu sein, … sowohl satt zu sein als zu hungern. Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt.” - Philipper 4:12 und 13

Nicht am Gesundsein liegt es, nicht am Kranksein, sondern an der Freiheit des Geistes, am Vertrauen in Gottes Führung - auch in Zuständen der Behinderung. Die wahre innere Freiheit liegt ein für allemal in jenem Vertrauen in Gott, den Vater, und in jenem Vertrauen in unseren Herrn, das sagt: „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken - denen, die nach Vorsatz berufen sind.” Wenn wir dieses Wort wirklich glauben, dann beginnt für uns schon die göttliche Freiheit, die unser Herr, als er Mensch war, gewonnen hatte; dieses: „Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst”, das er aussprach, als er schon vor dem Kreuze stand.

Alle Bedingungen unseres Lebens sind gut im Hinblick darauf, daß Gott gewisse Dinge zu unserer Zubereitung zuläßt. In der Welt, aber nicht von der Welt zu sein, uns in der Welt geistig unbefleckt zu halten - das haben wir zu lernen, und nicht aus der Welt in die Abgeschiedenheit zu fliehen.

Der Christ muß in der Welt seinen Weg gehen; Weltkenntnis erwerben und haben. Und: Er muß in der Welt „Licht” sein.



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung