Nehemia

Der Name „Nehemia” bedeutet, „Trost von Gott”. Auch auf uns werden Trost und Ermutigung kommen, wenn wir einige von Nehemias Erfahrungen betrachten, wie sie in dem Buch gleichen Namens aufgezeichnet sind.

Nehemia war der Sohn von Hachalja aus dem Stamme Juda, der einer der vornehmen hebräischen Familien angehörte, die in die Babylonische Gefangenschaft verschleppt worden waren.

Die Meder und Perser hatten Babylon erobert. Das zweite Weltreich, das in dem Bild von Nebukadnezars Vision durch die Brust und die Arme aus Silber dargestellt war (Daniel 2:31 - 33), dieses zweite Herrscherreich regierte jetzt die Welt.

Unsere Geschichte beginnt ungefähr im Jahre 454 v. Chr. in Susa, im Palast Artaxerxes’, König von Persien. Josephus Flavius, der bekannte römische Geschichtsschreiber und Hebräer zur Zeit der Zerstörung Jerusalems, berichtet, daß Nehemia zu jener Zeit ein noch sehr junger Mann war, ungefähr um die Zwanzig. Trotz seiner Jugend hatte er am königlichen Hof einen hohen Rang inne, den Rang des königlichen Mundschenks. Dieser Titel ist für unser Verständnis in gewissem Maße irreführend, und gibt nicht einen hinlänglichen Begriff von der Würde seiner Stellung.

Nehemias Aufgaben bestanden nicht allein darin, Speisen und Getränke des Königs zu kosten, um dessen eventueller Vergiftung vorzubeugen; er war in Wirklichkeit einer der verantwortungsvollsten Beamten des Reiches: ein Vertrauter des Königs - immer zu seiner Rechten. Jemand, dessen Rat der König wertschätzte und suchte. Heute würde man eine solche Persönlichkeit unter Umständen als Kanzleramtsminister oder Staatssekretär bezeichnen. Auch Daniel, der Prophet, hatte zu seiner Zeit im Weltreich Babylon eine vergleichbare Stellung inne.

Wir wissen nicht, wie es dazu kam, daß der junge Nehemia in eine derartig hohe Position eingesetzt wurde. Es ist nichts darüber berichtet. Eines aber ist sicher und von großer Wichtigkeit: Wir wissen aus seinem Lebenslauf, daß er von gottergebenen Eltern aufgezogen wurde, die in ihn von frühester Kindheit an Liebe und Ergebenheit für den Gott Israels hineinlegten und ihm das von alters her stammende, rechtmäßige Erbe seines Volkes seinem Herzen deutlich einprägten. Er war Hebräer - und er blieb Hebräer, auch wenn er in Persien als Perser lebte.

Als Vertrauensmann und Berater des Königs war es Nehemias Aufgabe, mit den Stimmungen und Strömungen im Volk vertraut zu sein, so daß er auch imstande war, dem König über eventuelle Bedrohungen seines Herrschertums einen Hinweis zu geben.

Um dieser Aufgabe nachzukommen, war es seine Gewohnheit, sich unerkannt unter die Leute auf Straßen und Marktplätzen zu mischen, vor allen Dingen aber unter jene, die mit den Karawanen aus fern her angereist kamen. Von ihnen konnte er erfahren, wie die Lage in anderen Teilen des Reiches war.

Nachricht aus dem Heiligen Land

Josephus Flavius erzählt: Eines Tages, als Nehemia erfuhr, daß neu angekommene Reisende die hebräische Sprache sprachen, gesellte er sich zu ihnen und war sehr erfreut festzustellen, daß einer von ihnen ein enger Verwandter war, der gerade von einer ausgedehnten Reise nach Jerusalem zurückkam. Erzogen im Glauben seiner Väter, bewegten ihn die Interessen des Heiligen Landes, der Heiligen Stadt und Gottes Heiligem Tempel in ganz besonderer Weise, und er war begierig, alles Wissenswerte über die Lage der Juden dort zu erfahren. Jene waren Jahre zuvor aus der babylonischen Gefangenschaft aufgrund des Ediktes von König Cyrus in ihr Land zurückgekehrt, und das Wohlergehen seiner fernen jüdischen Brüder lag Nehemia zutiefst am Herzen. Lesen wir nun den Text, wie er in Nehemias eigenen Worten niedergeschrieben ist: „Da kam Hanani, einer von meinen Brüdern, er und einige Männer aus Juda. Und ich fragte sie nach den Juden, den Entronnenen, die von der Gefangenschaft übriggeblieben waren, und nach Jerusalem. Und sie sprachen zu mir: Die Übriggebliebenen, die von der Gefangenschaft dort in der Landschaft übriggeblieben sind, sind in großem Unglück und in Schmach; und die Mauer von Jerusalem ist niedergerissen, und seine Tore sind mit Feuer verbrannt. Und es geschah, als ich diese Worte hörte, setzte ich mich hin und weinte, und trug Leid Tage lang; und ich fastete und betete vor dem Gott des Himmels.” - Nehemia 1:2 - 4

Wir lesen aus diesen Zeilen, wie leidenschaftlich Nehemia für sein Volk fühlte, wie eng er mit ihm und der Heiligen Stadt verbunden war. Er hatte Jerusalem nie gesehen. Alles, was er über ihre frühere Schönheit wußte, war ihm aus den sehnsüchtigen Erzählungen seiner Eltern und anderer Juden übermittelt worden. Und doch war er tief bewegt und bestürzt, als er von der Verwüstung Jerusalems hörte, so sehr, daß er darüber weinte. Und es ist ein weiterer Beweis seines großen Glaubens an den Gott seiner Väter, daß er sich sofort und aus natürlichem Antrieb zum Gebet wandte.

Nehemias Gebet

Betrachten wir dieses schöne und bedeutungsvolle Gebet, das wir in Nehemia 1:5 - 11 aufgezeichnet finden, etwas näher. „Ach, Jahwe, Gott des Himmels, du, der große und furchtbare Gott, der den Bund und die Güte bewahrt denen, die ihn lieben und seine Gebote beobachten.” Mit anderen Worten: Wie groß, o Gott, bis du, sagte Nehemia. Er hatte seine eigene, feste Vorstellung von der Majestät Gottes; und das Wort „furchtbar”, wie es in der Übersetzung steht, bedeutet nicht „furchterregend”, sondern „so groß, daß ihm Ehrfurcht gebührt”.

Auch zeigt sich Nehemias genaue Kenntnis der Heiligen Schriften, indem er fast wörtlich aus 5. Mose 7:9 zitiert, wo es heißt: „So wisse denn, daß Jahwe, dein Gott, der Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Güte auf tausend Geschlechter hin denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote beobachten.”

Wir fahren fort mit dem Gebet Nehemias - nun Vers 6: „Laß doch dein Ohr aufmerksam und deine Augen offen sein, daß du hörest auf das Gebet deines Knechtes, welches ich heute, Tag und Nacht, für die Kinder Israel, deine Knechte, vor dir bete, und wie ich die Sünden der Kinder Israel bekenne, die wir gegen dich begangen haben! Auch wir, ich und meines Vaters Haus, haben gesündigt.”

Wenn hier von „Ohren” und „Augen” Gottes gesprochen wird, erinnert uns das an Hesekiels Gebet, als er vor dem Herrn den beleidigenden Brief von Sanherib ausbreitete. Er sagte, wie in 2. Könige 19:16 zu lesen ist: „Jahwe, neige dein Ohr und Höre! Jahwe, tue deine Augen auf und sieh! Ja, höre die Worte Sanheribs, die er gesandt hat, um den lebendigen Gott zu höhnen.” Diese Ausdrucksweise ist keineswegs anmaßend. Sie ist im Gegenteil in völliger Harmonie mit einer der kostbarsten Verheißungen, die der Ewige seinem Volke gegeben hat. Wir lesen sie in Psalm 34:15: „Die Augen Jahwes sind gerichtet auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Schreien.”

Ebenso findet sich in dem Gebet Salomos, das er bei der Einweihung des Tempels sprach, eine vergleichbare Stelle: „Nun, mein Gott, laß doch deine Augen offen und deine Ohren aufmerksam sein auf das Gebet an diesem Orte!”- 2. Chronika 6:40

Nehemia erinnert Gott an dessen Verheißung

Danach legte Nehemia in seinem Gebet ein Bekenntnis ab, nicht allein für sich selbst, sondern für das ganze Volk Israel. Er sagte: „Auch wir - ich und meines Vaters Haus - haben gesündigt.” Ein Bekenntnis der Sünde sollte Bestandteil jedes Gebetes sein.

Im Anschluß daran erinnert Nehemia Gott an Verheißungen, die Er seinem Volke gegeben hatte: „Gedenke doch des Wortes, das du deinem Knechte Mose geboten hast, indem du sprachst: werdet ihr treulos handeln, so werde ich euch unter die Völker zerstreuen; wenn ihr aber zu mir umkehret, und meine Gebote beobachtet und sie tut: sollten eure Vertriebenen am Ende des Himmels sein, so würde ich sie von dannen sammeln und sie an den Ort bringen, den ich erwählt habe, um meinen Namen daselbst wohnen zu lassen.” - Verse 8 und 9

Mit dieser Aussage zitierte Nehemia die Verfügung Gottes, die in 3. Mose 26:33 niedergeschrieben ist: „Euch aber werde ich unter die Nationen zerstreuen, und ich werde das Schwert ziehen hinter euch her; und euer Land wird eine Wüste sein und eure Städte eine Öde.”

Genau das war geschehen; genau das hatte sich im Heiligen Land und mit der Stadt Jerusalem abgespielt. Es war der Fluch über Israel wegen seines Ungehorsams. Aber Nehemia war ein guter Bibelkenner. Er wußte, daß für Israel Segen prophezeit war, wenn es der Stimme Gottes gehorchen würde. Und er zitiert wiederum Gottes eigene Worte aus 5. Mose 30:4 im Anschluß an den Inhalt der Verse 1 - 3.

Was tat Nehemia danach? Zunächst nahm er wiederum Bezug auf Gottes eigenes Wort, daß er ein Bündnisse einhaltender Gott sei, ein Gott, der gewiß das hinausführen werde, was er versprochen habe. Er erinnerte Jahwe an dessen Zusage, sein Volk Israel unter bestimmten Bedinungen wieder zusammenzuführen, ja, er verlangte sogar die Einhaltung dieses Versprechens. Nehemia „rechtete” mit Gott.

Er beschoß sein Gebet, indem er gezielt auf die unter erbärmlichen Verhältnissen im zerstörten Jerusalem lebenden Einwohner hinwies, die danach verlangten, zu Gott zurückzukehren und unter besseren Bedingungen leben zu können. „Sie sind ja deine Knechte und dein Volk, das du erlöst hast durch deine große Kraft und deine starke Hand. Ach, Herr, laß doch dein Ohr aufmerksam sein auf das Gebet deines Knechtes und auf das Gebet deiner Knechte, die Gefallen daran finden, deinen Namen zu fürchten; und laß es doch deinem Knechte heute gelingen und gewähre ihm Barmherzigkeit vor diesem Manne!” - Verse 10 und 11

Artaxerxes

Der Mann, der hier mit „dieser Mann” bezeichnet wird, war Artaxerxes, der damalige König von Persien. Er war ein absoluter Monarch, der keinem Parlament oder irgendwelchen Gesetzen Rechenschaft schuldete, und dessen bloße Laune Gesetz wurde. Die Geschichte berichtet, daß er willkürlich und eigenwillig war, rasch aufbrausend in heftigem Zorn - und daß er oft auf der Stelle den tötete, der eine andere Meinung vertrat als er selbst.

Artaxerxes wurde auch „Longimanus” genannt, das heißt „Der mit der langen Hand”, denn seine rechte Hand war länger als seine linke. Er war auf diese körperliche Besonderheit stolz und behauptete, sie sei das Ergebnis von häufigem und raschen Gebrauch des Schwertes.

Und gerade dieser Mann war es, durch den Nehemia seine Zwecke und Ziele erreichen sollte. Nehemia betete nicht nur einmal; er bezeugt, daß er Tag und Nacht betete. So ist dieses Gebet nur eine Zusammenfassung dessen, was er vier Monate hindurch ständig vor seinem Gott ausbreitete. Woher wissen wir das? Der erste Vers des Nehemia-Buches besagt, daß er im Monat Kislew zu beten begann, als er den traurigen Zustand von Jerusalem erfahren hatte. In Kapitel 2:1 heißt es, daß er im Monat Nisan Antwort auf sein Gebet erhielt. Das war ein Zeitraum von vier Monaten.

Wenn Nehemia die gleiche Gewohnheit hatte wie Daniel, der dreimal am Tag betete und die Fenster gen Jerusalem hin geöffnet hatte (wie in Daniel 6:14 zu lesen ist), so muß er dieses Gebet mindestens 360mal gesprochen haben.

Die Antwort auf Nehemias Gebet

Die Antwort kam plötzlich und unerwartet. Der König hatte ein Bankett für die Edlen seines Hofes vorbereitet, an dem auch die Königin teilnahm. Wir können uns vorstellen, daß die Gäste alle in ihrem schönsten Gewändern und mit Geschmeide behängt erschienen waren, daß sie lachten und sich freuten.

Nehemia stand wie gewöhnlich an der rechten Seite des Königs, um das Essen und den Wein zu kosten, bevor es dem König serviert wurde. Als er den Wein eingoß, schaute der König auf, und bemerkte den Kontrast zwischen Nehemia und den fröhlichen Gästen. Er sah Trauer und Blässe auf dessen Angesicht, die er nie zuvor beobachtet hatte.

Laßt uns diesen Zusammenhang berücksichtigen, daß Nehemia nicht allein gebetet, sondern auch gefastet hatte. Er hatte viele Monate hindurch nur sehr wenig gegessen; er war in Sorge um sein Volk, und nun war er ausgezehrt und hohlwangig.

Artaxerxes legte seine Hand auf Nehemias Arm: „Was bekümmert dich?” fragte er; „alle hier sind glücklich, und du bist traurig. Bist du krank?” „O nein, Majestät”, erwiderte Nehemia, und versuchte zu lächeln; „es geht mir ganz gut.” Die Augen des Königs blickten ihn scharf an. „Nun”, sagte er, „wenn du nicht krank bist, muß eine große Traurigkeit in deinem Herzen sein; sie zeichnet sich auf deinem Antlitz ab.”

Nehemia war sehr erschrocken, und - wie er es selbst im zweiten Kapitel ausdrückt - „da fürchtete ich mich gar sehr”. Oder, wie es in anderen Übersetzungen heißt: „Ich hatte in diesem Moment schreckliche Angst.”

Warum war er so erschrocken? Zu gut kannte er die Natur seines Königs; hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, wie dieser Mann kurzerhand jeden, der Anstoß bei ihm erregte, mit dem Schwert durchbohrte. Nehemia erkannte, daß seine Traurigkeit mißdeutet werden konnte. Sie konnte dem König als Ausdruck eines Geistes der Unzufriedenheit erscheinen - oder gar des nachlassenden Interesses an seinen Pflichten bis hin zur Illoyalität und zum Verrat. Und eine dringende geheime Bitte löste sich aus der Bedrängnis seines Herzens, und stieg hinauf zum Thron des Allmächtigen.

Nehemias mutiges Verlangen

Nehemia erkannte sofort, daß dies eine vom Herrn gesandte „offene Tür” sein mußte, die ihm bewies, daß die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte, gekommen war. Wir lesen dazu Nehemias Antwort an den König in Kapitel 2:3 und 4: „Und ich sprach zu dem König: der König lebe ewiglich! Warum sollte mein Angesicht nicht traurig sein, da die Stadt, die Begräbnisstätte meiner Väter, wüste liegt, und ihre Tore vom Feuer verzehrt sind? Und der König sprach zu mir: um was bittest du denn? Da betete ich zu dem Gott des Himmels.”

Die Bitte, die Nehemia nun an den König richtete, kam ihm nun leicht und wohlgeordnet von den Lippen, so, wie wenn sie ihm von oben eingegeben worden wäre. „Und ich sprach zu dem König: wenn es dem König gut dünkt, und wenn dein Knecht wohlgefällig vor dir ist, so bitte ich, daß du mich nach Juda sendest, zu der Stadt der Begräbnisse meiner Väter, damit ich sie wieder aufbaue.” - Vers 5

„Da sprach der König zu mir, und die Königin saß neben ihm: wie lange wird deine Reise währen, und wann wirst du zurückkehren? Und es gefiel dem König, mich zu senden; und ich bestimmte ihm eine Zeit.” - Vers 6 Und es war keine kurze Zeitspanne, die Nehemia angab. Aus der kurzen Textstelle in Kapitel 5:14 ist zu ersehen, daß es sich um einen zwölf Jahre langen Urlaub handelte, den Nehemia auch erhielt.

Eine derartige Bitte vor den König Artaxerxes zu bringen, erforderte wirklich viel Mut. Der König hätte Nehemias Wunsch nach dem Wiederaufbau Jerusalems leicht als einen Akt der Auflehnung gegen seine Herrschaft mißverstehen können, als ein Ansinnen, das Volk der Juden wieder aufzurichten und eine eigene Regierung zu bilden, womöglich mit sich selbst als König. Tatsächlich hatte König Artaxerxes vor Jahren wegen eben solcher Beschuldigungen den Wiederaufbau Jerusalems unter Esra gestoppt. Diese Begebenheit ist im 4. Kapitel des Buches Esra nachzulesen.

Wenn nun Nehemia für ein solches Projekt bat, stand sein Leben auf dem Spiel. Aber er wußte, daß Gott sein so oft wiederholtes Gebet: „Schenke mir Gnade in den Augen dieses Mannes!” beantwortet hatte. Sein Vertrauen in die Erhörung seiner monatelangen Gebete war so vollkommen, daß er schon im voraus geplant hatte, was für den Erfolg seines Unternehmens notwendig war. Er hatte sich genau überlegt, was er vom König erbitten wollte, sobald sich die Gelegenheit dafür bot. Nun, da der König ihn fragte, konnte er seinen fertigen Plan vor ihm aufrollen, und brauchte später nicht noch einmal um weitere Gunst nachzusuchen. Er schmiedete das Eisen, so lange es heiß war.

Dies ist auch aus den nächsten beiden Versen ersichtlich: „Und ich sprach zum dem König: wenn es den König gut dünkt, so gebe man mir Briefe an die Landpfleger jenseits des Stromes, daß sie mich durchziehen lassen, bis ich nach Juda komme; und einen Brief an Asaph, den Hüter, des königlichen Forstes, daß er mir Holz gebe, um die Tore der Burg zu bälken, welche zum Hause gehört, und für die Mauer der Stadt, und für das Haus, in welches ich ziehen werde. Und der König gab es mir, weil die gute Hand meines Gottes über mir war.” - Verse 7 und 8

Wir sehen: Nehemia hatte alles für sein Werk notwendige in seiner Planung bereits berücksichtigt. Diese sorgfältige Vorarbeit deutet aber auch darauf hin, wie genau er seinen Verwandten ausgefragt hatte über alle Einzelheiten der Beschädigungen, die wiederhergestellt werden sollten. So viel Vorausschau, Gründlichkeit und Weisheit beeindruckten den König.

Er gab Nehemia nicht nur das, worum er bat; er gab ihm mehr. Artaxerxes ernannte Nehemia zum Landpfleger von Jehud, und gab ihm eine starke militärische Eskorte berittener Soldaten mit, so wie es sich für einen Landpfleger gehörte.

Nehemia beginnt sein Werk

Nach einer vier Monate dauernden Reise kam Nehemia nach Jerusalem, wo er von den recht niedergeschlagenen Einwohnern der Stadt begrüßt wurde. Er sagte zunächst nicht, was das Ziel seines Kommens sei, und erwähnte auch nicht, daß er zum Landpfleger über Jehud ernannt worden war. Für die Bewohner Jerusalems war Nehemia vorerst nichts anderes als ein hoher Würdenträger, der ihre Stadt besuchte - ein reicher, junger Hebräer, der eine hohe Stellung am persischen Hof erworben hatte. Das konnten sie an seiner Eskorte ersehen und am Reichtum seines Zuges. Er selbst wollte zunächst - ganz allein für sich - die Lage einschätzen.

Nehemias geheime Inspektion

Nach drei Tagen, in denen er sich unter die Leute gemischt und sie und die Oberhäupter ihrer Familien kennengelernt hatte, machte er sich im Geheimen an die Inspektion der zerstörten Stadt. Er wartete, bis alle schliefen; dann ritt er bei Mondenschein - nur begleitet von wenigen treuen Dienern zu Fuß -, um die zerstörten Mauern Jerusalems zu besichtigen. Wir folgen Nehemias persönlichem Bericht in Kapitel 2:12 - 16: „Und ich machte mich des Nachts auf, ich und wenige Männer mit mir; ich hatte aber keinem Menschen kundgetan, was mein Gott mir ins Herz gegeben, für Jerusalem zu tun; und kein Tier war bei mir außer dem Tiere, auf welchem ich ritt. Und ich zog des Nachts durch das Taltor hinaus, und gegen die Drachenquelle hin, und nach dem Misttore; und ich besichtigte die Mauern von Jerusalem, welche niedergerissen, und ihre Tore, die vom Feuer verzehrt waren. Und ich zog hinüber zum Quellentore, und zum Königsteich, und es war kein Raum zum Durchkommen für das Tier, welches unter mir war. Und ich zog des Nachts durch das Tal hinauf und besichtigte die Mauer; und ich kam wieder durch das Taltor herein, und kehrte zurück. Die Vorsteher wußten aber nicht, wohin ich gegangen war, und was ich tat; denn ich hatte den Juden und den Priestern und den Edlen und den Vorstehern und den Übrigen, die das Werk taten, bis dahin nichts kundgetan.”

Dieser Ritt im Mondlicht war für Nehemia eine traurige Erfahrung. Wenn er schon früher geweint hatte, als man ihm das Elend Jerusalems mitteilte, wie überwältigt muß er nun gewesen sein, all dies mit seinen eigenen Augen zu sehen. Jetzt hatte er eine reale Kenntnis von der wirklichen Sachlage. Was er gesehen hatte, bestärkte ihn in der Überzeugung, daß sein Plan des Wiederaufbaus durchführbar sei.

Am nächsten Morgen rief er die Ältesten und die Führer des Volkes zusammen, und erklärte ihnen den tatsächlichen Zweck seines Kommens. Er zeigte ihnen die Urkunden des Königs und berichtete, wie Gott sein Gebet erhört - und wie wunderbar Er ihm alles hatte gelingen lassen. Dann erläuterte er ihnen, wie sie das Aufbauwerk sofort beginnen könnten. Wir lesen Kapitel 2:17 und 18: „Und ich sprach zu ihnen: ihr seht das Unglück, in welchem wir sind, daß Jerusalem wüste liegt und seine Tore mit Feuer verbrannt sind. Kommt und laßt uns die Mauern Jerusalems wieder aufbauen, daß wir nicht länger zum Hohne seien! Und ich tat ihnen kund, wie die Hand meines Gottes gütig über mir gewesen war, und auch die Worte des Königs, die er zu mir geredet hatte. Da sprachen sie: wir wollen uns aufmachen und bauen! Und sie stärkten ihre Hände zum Guten.”

Wie rasch war es Nehemia gelungen, seinen Mithelfern Mut zu machen. Sein Eifer übertrug sich auf sie. Die Bewohner Jerusalems begeisterten sich plötzlich für die Arbeit, indem sie riefen: „Auf, laßt uns bauen!” Und als sie mit dem Werk begannen, arbeitete Nehemia mit ihnen. Er arbeitete mit seinen Händen wohl genauso hart, wie jeder seiner Mitbürger; er schleppte Steine und schweres Bauholz und mischte Mörtel für die Erneuerung der Mauern der geliebten Stadt.

Die Mauern Jerusalems

Warum war die Wiederaufrichtung der Mauern Jerusalems so wichtig? War es nur ein Status-Symbol? Nein, nicht nur das. Es gab da einen sehr praktischen Gesichtspunkt. Zerbrochene Mauern sind ein willkommener Anlaß, raubend und plündernd in eine Siedlung einzufallen. Und die Feinde Israels nutzten diese Gelegenheit weidlich aus. Jerusalems Bewohner waren jedem vorüberziehenden Nomadenstamm ziemlich wehrlos ausgeliefert. Doch wenn die Mauern wieder errichtet und befestigt waren, ergab dies eine wesentlich andere Lage.

Ein Bibellexikon berichtet über die einstigen Stadtmauern Jerusalems folgendermaßen: „Jerusalem war ein beinahe uneinnehmbares Gibraltar. Die steilen Hänge der Bergeinschnitte im Süden und im Westen boten natürlichen Schutz gegen Belagerungen. Nur auf der Nordseite konnte der Feind die Stadt angreifen.”

Niemand weiß, wie hoch die ursprünglichen Stadtmauern gewesen sind. Aber in ihrem restaurierten Zustand vom Jahr 1542 nach Christus kann man ihre Höhe auf 6 Meter bis 9 Meter ansetzen. Es scheint, daß die ursprünglichen Mauern ein unregelmäßiges Viereck bildeten, deren Gesamtumfang etwas mehr als 6,5 Kilometer ausmachte.

Im dritten Kapitel seines Berichtes zählte Nehemia fünfzig Familien auf, die sich am Aufbauwerk beteiligten. Das würde bedeuten, daß auf jede Familie ein Reparatur-Abschnitt von durchschnittlich 130 Metern gekommen wäre. Es war Nehemias Plan, jede Familie das Mauerstück reparieren zu lassen, das ihrem Haus am nächsten lag. Ein weiser Plan! Die Familien waren natürlich daran interessiert, die Mauer nächst ihres eigenen Wohnbereiches besonders stabil zu wissen. Auf diese Weise gab sich ein jeder große Mühe, „sein” Mauerstück stark und fest zu machen. Auch ein gewisser Anteil an Stolz über die geleistete Arbeit spielt dabei eine Rolle. Jede Familie konnte sich in ihrem Mauer-Abschnitt ein Denkmal setzen für Handwerkskunst und Geschicklichkeit.

Bei zahlreichen Rückschlägen, Schwierigkeiten und entmutigenden Situationen schritt die Arbeit fort. Doch wurde jedes der Probleme von Gott überwaltet. Die Wiederherstellung der Mauern Jerusalems - wobei man die Originalsteine verwendete - wurde in der unglaublich kurzen Zeit von 52 Tagen vollendet.

Was können wir aus Nehemias Erfahrungen lernen?

Betrachten wir einige Belehrungen, die aus diesem Bericht hervorgehen. Nehemia war zwar noch ein sehr junger Mann, und doch stand er beim König in hohem Ansehen; er war ein Mensch mit seltenen Gaben. Wir erinnern uns an die Worte, die der Apostel Paulus an Timotheus richtet: „Niemand verachte deine Jugend, sondern sei ein Vorbild der Gläubigen im Wort, im Wandel, in Liebe, im Glauben, in Keuschheit.” - 1. Timotheus 4:12

Die jüngeren Brüder und Schwestern sollten nicht unterschätzt werden. Man kann nicht automatisch voraussetzen, daß sie noch nicht reif genug oder gar oberflächlich sind - nur deshalb, weil sie noch nicht Jahrzehnte in der Nachfolge Jesu stehen. Dies wäre ein ernst zu nehmender Fehler. Auch Stephanus war ein junger Mann, aber in wenigen Monaten machte er seine Berufung und Erwählung fest. Der Herr selbst bewertete Stephanus so hoch, daß er ihn für würdig befand, als erster den Fußspuren des Meisters bis in den Tod zu folgen.

Der Umstand, daß Nehemia im Glauben seiner Väter so sorgfältig unterwiesen war, enthält Lernstoff für alle unter uns, die Kinder aufzuziehen haben. Gleichwie Nehemia in Persien geboren war und seine Bildung in jener heidnischen Nation erfahren hatte, so sind auch unsere Kinder den Einflüssen dieser argen und bösen Welt unterworfen; aber gottesfürchtige Eltern können diesen Einwirkungen entgegenarbeiten.

Nehemias tiefes Empfinden für das Wohlergehen Jerusalems zeigt, daß die gottesfürchtige Erziehung durch seine Eltern bei ihm auf guten Boden gefallen war. Und so ist es auch unser Vorrecht und unsere Pflicht, unsere Kinder in der Wahrheit zu unterweisen, ihnen die Liebe zu Gott und zu seinem Volk einzupflanzen. Nehemia lernte die hebräische Sprache von seinen Eltern; wir können unsere Kindern die Sprache der Bibel lehren. Wer weiß, ob der Herr sie ziehen wird und sie für einen besonderen Dienst gebrauchen möchte, wie er es mit Nehemia getan hat?

Nehemia lebte in Persien; aber er war kein Perser. So lebt auch der Christ zwar in der Welt, aber er ist nicht von der Welt. Jesus sagt es ja in seinem großen Gebet, daß in Johannes 17 aufgezeichnet ist (siehe Vers 16). Es kommt nicht darauf an, welche Stellung wir in der Welt einnehmen; wichtig sind unser Interesse und unsere Hingabe für das Wohlergehen Zions. Unsere tiefe Liebe für die Botschaft des Evangeliums und für seinen Dienst sollte uns stets um Gelegenheiten beten lassen, diesen Dienst auch ausführen zu dürfen. Möchten wir doch immer vorbereitet sein auf jeden Wink des Herrn, wo er einen Weg öffnet.

Die gegenbildliche Stadt mit den zerstörten Mauern

Erinnern wir uns noch einmal an Nehemias tiefe Traurigkeit, als er von dem Zustand der Mauern Jerusalems unterrichtet wurde. Ohne Mauern war Jerusalem keine Stadt mehr. Sie war eine Ruine - ohne Substanz und ohne Ehre. Feinde konnten in sie eindringen, plündern und rauben, wie sie wollten. Sie war zum sprichtwörtlichen Gespött geworden.

Die christliche Kirche, wie sie von unserem Herrn und den Aposteln gegründet worden war, ist in der Heiligen Schrift symbolisch als die „Stadt Gottes” dargestellt. So lesen wir in Hebräer 12:22 und 23: „ … sondern ihr seid gekommen zum Berge Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem; und zu Myriaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung; und zu der Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind.”

Die Urkirche glich einer Stadt, die noch feste Mauern hatte. Sie hielt zusammen und hatte Substanz. Der starke Glaube an das Evangelium - der Glaube, „der den Heiligen ein- für allemal überliefert worden war”, machte sie zu einem unzerstörbaren Bollwerk in dieser feindlichen Welt (siehe Judas 3). Die Urkirche verstand auch noch den göttlichen Heilsplan sehr genau. So sieht sie der Prophet hunderte von Jahren zuvor, wenn er sagt: „Deine Mauern wirst du Heil nennen, und deine Tore Ruhm.” - Jesaja 60:18 Dieser allerheiligste Glaube war der Schutz gegen die Angriffe des Widersachers. Die „Mauern” aus verankerter Schriftkenntnis erhielten die junge Kirche abgesondert und in Sicherheit.

Doch bald nach dem Tode der Apostel begannen diese Mauern abzubröckeln. Paulus sah diese Gefahr voraus, als er sagte: „Ich weiß, daß nach meinem Abschiede verderbliche Wölfe zu euch hereinkommen werden, die der Herde nicht schonen. Und aus euch selbst werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her.” - Apostelgeschichte 20:29 und 30

Falsche Lehren und widergöttliche Praktiken begannen, in die Kirche Christi einzudringen, und was Paulus vorausschauend an Timotheus geschrieben hatte, traf ein. „Denn es wird eine Zeit sein, da sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach ihren eigenen Lüsten sich selbst Lehrer aufhäufen werden, in dem es ihnen in den Ohren kitzelt; und sie werden die Ohren von der Wahrheit abkehren und zu den Fabeln sich hinwenden.” - 2. Timotheus 4:3 und 4

Als sich das große antichristliche System zu entwickeln begann, verfielen auch die „Mauern” Jerusalems (Zions) mehr und mehr, bis von dem ursprünglichen Glaubensgerüst und der in ihm verankerten Lehre nur noch wenig übrig blieb. Sogar der große „Eckstein” des Lösegeldes ging in dem geistigen Trümmerhaufen verloren. Dann kam die Reformation, und die Mauern wurden allmählich wieder gebaut - trotz großer Widerstände.

Das Gebet von David in Psalm 51:18: „Tue Zion Gutes in deiner Gunst, baue die Mauern Jerusalems!”, von gläubigen Christen wieder und wieder gebetet, begann, beantwortet zu werden. Lang verlorene Glaubenswahrheiten wurden wieder entdeckt und in ihre alten Zusammenhänge eingefügt. Das Werk des Wiederaufbaues beschleunigte sich.

Dann kam der Herr wieder, und durch die Hand des „klugen und treuen Knechtes” (Matthäus 24:45) wurden die Grundwahrheiten der biblischen Lehre wieder aufgebaut zu ihrer ursprünglichen Gestalt. Und - vergessen wir nicht! - daß Nehemia die alten, die ursprünglichen Steine verwendete, um die Mauern Jerusalems wieder aufzubauen. Er hatte keinen neuen Steine zuhauen lassen. Es war immer noch die alte, alte Geschichte: „Der Glaube, der ein- für allemal den Heiligen überliefert worden war”, wurde wieder zu seiner einstigen Klarheit wiederhergestellt.

Es gibt noch eine andere Interpretation des Bildes einer Stadt mit niedergerissenen Mauern. Es ist eine mehr auf den Einzelnen bezogene Deutung, wozu in Sprüche 25:28 geschrieben steht: „Wie eine Stadt, deren Mauern niedergerissen sind, so ist ein Mann, dessen Geist Selbstbeherrschung mangelt.” Der Geist, von dem hier die Rede ist, meint die Herzensstellung, die Gedanken jedes einzelnen, die seine Handlungsweise kontrollieren. Wir müssen unsere Gedanken und unsere Vorstellungswelt beherrschen lernen, und alles, was für das Hervorbringen der Neuen Schöpfung schädlich ist, hinauswerfen und dafür sorgen, daß es auch draußen bleibt.

Unser Krieg findet im Kopfe statt. Die Neue Schöpfung entsteht im Geist. Sie muß unser irdisches Gedankengut als Werkzeug benutzen und es gefangennehmen unter den neuen Willen, den Geist des Christus. Paulus erklärt dies ganz klar in 2. Korinther 10:4 und 5: „Denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern göttlich - mächtig zur Zerstörung von Festungen; indem wir Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, und jeden Gedanken gefangennehmen unter den Gehorsam des Christus.”

Das ist nichts, was billig zu erreichen wäre. Das Wieder-Errichten steinerner Mauern ist nicht leicht.

Zweifellos war Nehemia einer der Gläubigen, die in Hebräer 11:32-39 aufgezählt werden, und auch er wird einmal „einer der Fürsten” sein, die der Herr über die ganze Erde einsetzen wird (siehe Psalm 45:16). Er war einer von denen, die „durch Glauben Gerechtigkeit wirkten, Verheißungen erlangten, des Schwertes Schärfe entgingen, aus der Schwachheit Kraft gewannen”, einer, „dessen die Welt nicht Wert war” (siehe Hebräer 11:33, 34 und 38). Und letztlich war er einer von jenen, die durch den Glauben ein (gutes) Zeugnis erlangten - Hebräer 11:39

Nehemias letzte Worte waren: „Gedenke es mir, mein Gott, zum Guten!” - Nehemia 13:31



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