Jakob und Esau in neuem Lichte

Die Erkenntnisse, die uns ein mit den Lebensgewohnheiten und Sitten der Araber gut vertrauter Reisender und Professor berichtet, läßt den Verkauf des Erstgeburtsrechts des Esau an Jakob und den an Isaak verübten Betrug in einem anderen Licht erscheinen. Es wird jedenfalls zu Recht behauptet, daß die Gebräuche der Araber im Nahen Osten auch heute noch in jeder Beziehung dieselben sind wie vor 3.500 Jahren, als Abraham unter ihnen als großer Scheich wohnte, dem zahlreiche Herden und Knechte gehörten. Daher zeigten die schon damals vorherrschenden Sitten und Gebräuche, wie sehr sich die Verhaltensweisen der drei - Isaaks, Jakobs und Esaus - voneinander unterschieden.

Auch heute noch wird der erstgeborene Sohn der Erbe des ganzen Besitzes und ihm steht in der Familie eine Autorität zu, die der des Vaters sehr nahe kommt. Es ist bei den Arabern Sitte, daß der älteste Sohn den Geburtstag eines gefeierten Vorfahren, von dem er ein Erbgut empfangen hat, durch Fasten anerkennt. Die übrigen Familienmitglieder hingegen begehen diesen Tag feierlich. Das Fest des Geburtstages mitzufeiern, würde für den ältesten Sohn den Verzicht auf sein Erstgeburtsrecht bedeuten, das damit auf den nächstfolgenden übergehen würde.

Wenden wir dies auf Esau und Jakob und die Begebenheit des Verkaufs des Erstgeburtsrechts an. Vermutlich war der Anlaß eine Geburtstagsfeier ihres Großvaters Abraham, von dem der große Segen Gottes herkam, den Esau als ältester Sohn ererbte. Für Esau war dies daher ein Fastentag, aber für Jakob ein Feiertag, an dem er ein besonderes Linsenfestmahl genießen durfte. Als ältester Sohn hätte es Esau nicht nötig gehabt, eine Speise von seinem Bruder zu kaufen. Als Haupt der Familie, in seiner Stellung innerhalb der Familie dem Vater ähnlich, hätte er befehlen können, was er wünschte.

Bei dieser Gelegenheit aber, als er Jakob um die wohlschmeckende Speise bat, war dieser vermutlich sehr erstaunt und könnte gesagt haben: „Ist es dir ernst, oder scherzt du? Willst du wirklich auf deine Rechte als Erstgeborener verzichten, indem du dieses Gericht genießen willst? Wenn du das im Sinne hast, will ich freudig deine Verpflichtungen auf mich nehmen und als Erstgeborener fasten”. Die Antwort Esaus wird in etwa gelautet haben: „Gewiß, so meine ich es. Was sollte mir das Fasten? Ich habe keinen Glauben an die alten Verheißungen der Schrift und bezweifle sehr, ob Gott mit Vater Abraham mehr Gemeinschaft hatte als mit anderen”. Immer noch Esaus Aufrichtigkeit bezweifelnd, sagte Jakob nach der Gewohnheit des orientalischen Volkes: „Schwöre es mir, so will ich es glauben”. Und Esau schwor, daß er seine Rechte freiwillig seinem Bruder Jakob verkaufte, welcher die Bedingungen mit Freuden annahm, denn er glaubte an die dem Abraham gegebenen Verheißungen.

Warum Isaak betrogen wurde

Wir sind desweiteren darüber belehrt, daß es die Araber für völlig in Ordnung betrachten, die Alten zu betrügen, sofern ihnen damit Leid erspart werden kann. Vermutlich hätte es Isaak schmerzlich berührt, zu vernehmen, daß sein erstgeborener Sohn sein Vorrecht so mißachtete. Darum beschlossen Rebekka und Jakob, den Isaak zu täuschen. Esau war unehrlich und er versuchte, den Segen doch für sich zu nehmen, auch, nachdem er auf denselben mit einem Schwur verzichtet hatte. Offenbar befürchtete er, der Segen des Erstgeborenen würde Jakob auch den Hauptteil von des Vaters Besitz eintragen. Wahrscheinlich trachtete er nur nach dem irdischen Vermögen und nicht nach der geistigen Segnung Gottes durch Abraham. Sobald aber Jakob ihm das irdische Erbe überließ, schien er zufriedengestellt. Doch auch Jakob war zufrieden, weil er den Teil bekam, den er sich wünschte und den er über alles wertschätzte.

In voller Übereinstimmung mit dieser Betrachtungsweise der Dinge bezeichnet die Schrift Esau als einen ungöttlichen, weltlich gesinnten Menschen, der sein Erstgeburtsrecht der besonderen göttlichen Verheißungen für eine Speise verkaufte - für zeitliches, irdisches Wohlergehen. Andererseits wird Jakob für seine freiwillige Selbstverleugnung um der himmlischen Verheißungen willen in der Schrift gelobt.



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung