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Er achtete es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein
Die anerkannter Weise schwierige Schriftstelle, die diesen Satz enthält, findet sich in Philipper 2:6 fortfolgende. Der vollständige Text lautet nach der Elberfelder Übersetzung: „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war, welcher, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam ward bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze”. - Philipper 2:5 - 8
Aus eigener Erfahrung wissen wir, wie schwer es sein kann, die Ausdrucksweise des Apostels zu verstehen. Und daß dies nicht nur uns so ergeht, sondern sehr wahrscheinlich alle Erforscher der Schrift während des ganzen Evangeliumszeitalters gleichermaßen betrifft, bestätigt schon der Apostel Petrus in seinem 2. Brief, in den Versen 15 und 16 des 3. Kapitels: „Und achtet die Langmut unseres Herrn für Errettung so wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat. Ebenso ist es ja in allein seinen Briefen der Fall, wenn er in ihnen auf diese Dinge zu sprechen kommt. In diesen (Briefen) findet sich allerdings manches Schwerverständliche, das die Unwissenden und Ungefestigten ebenso zu ihrem eigenen Verderben verdrehen, wie sie es ja auch bei den übrigen (heiligen) Schriften tun”. (Menge-Übersetzung)
Es ist in einem solchen Fall immer gut und nützlich, mehrere Übersetzungen zu Rate zu ziehen. Wir wollen hierzu nun außer der Elberfelder Übersetzung noch die Übersetzungen von Schlachter, Schlatter, van Ess, der Zürcher Bibel, der Jubiläumsbibel (revidierte Luther-Übersetzung), die Übersetzungen von Menge, Albrecht und Ludwig Reinhardt zum Vergleich heranziehen.
Übereinstimmend mit der Elberfelder Übersetzung heißt es dort, daß Jesus - seiner Herkunft entsprechend - „in der Gestalt Gottes war” (Schlachter, Schlatter, Zürcher Bibel, Reinhardt), „in göttlicher Gestalt” (Jubiläumsbibel, Menge), „obgleich er göttlicher Natur war” van Ess) oder „Er hatte sein Dasein in Gottes Art”. (Albrecht)
Obwohl also Jesus von Natur von Gottes Gestalt oder Art war, so hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich selbst (Schlachter, van Ess, Zürcher, Jubiläumsbibel), machte sich zu nichts (Elberfelder), machte sich selber leer (Schlatter, ähnlich Reinhardt), er entkleidete sich (seiner göttlichen Herrlichkeit) (Albrecht), indem er Knechtesgestalt annahm.
Bei einer ersten Betrachtung dieses Satzes könnte man auf den Gedanken kommen: Jesus betrachtete es nicht als ein Verbrechen, Gott gleich zu sein; daher schickte er sich an, zur Stellung Gottes hinaufzusteigen. Aber die folgenden Worte sagen nun gerade das Gegenteil: „ … sondern sich zu nichts machte”.
Wenn wir auf diesen Satzteil schauen, so erwarten wir eigentlich im voranstehenden Satzteil: Jesus erachtete es als Raub, als ein Verbrechen, Gott gleich sein zu wollen, und er machte sich daher zu nichts. Aber so steht es nicht da.
Drittens heißt es im ersten Satzteil, daß Jesus von Anfang an schon Gottgleicheit besessen habe. Wie kann er dann noch nach Gottgleichheit trachten wollen? Es stellen sich also drei Fragen:
- Sagt der erste Satz, daß Jesus Gottgleichheit besaß?
- Trachtete Jesus nach Gottgleichheit?
- Was bedeutet das Wort „Raub”, (griechisch: harpagmos) an dieser Stelle?
Was die erste Frage betrifft, so antworten wir, daß Jesus zunächst keineswegs Gottgleichheit besaß, und daß die Formulierung: „ … da er in Gestalt Gottes war”, nichts dergleichen aussagt. Es bedeutet vielmehr, daß Jesus bzw. der Logos im Ebenbilde Gottes erschaffen war. Das waren auch die Engel, und das war auch der Mensch. Von einer Gott-Gleichheit ist da gar keine Rede, sowenig etwa der Königssohn dem König an Würde gleichkommt.
Wie kann man überhaupt an Gottgleichheit denken, da nur wenige Verse danach dann wirklich von einer unvorstellbaren Erhöhung des Gottessohnes die Rede ist, und daß Gott ihm einen Namen gab, „der über jeden Namen ist”? Wenn Jesus schon Gottgleichheit besessen hätte, dann konnte es eine Erhöhung gar nicht geben. Selbstverständlich ist Gott ausgenommen, wenn es heißt, daß der Name Jesu über jeden Namen erhoben wurde.
Was heißt nun: „Er erachtete es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein?” Menge - und die meisten der verglichenen Übersetzungen mit ihm - versteht es so: „Obgleich er in göttlicher Gestalt war, sah er doch die Gottgleichheit nicht als einen festzuhaltenden Besitz an, sondern er entäußerte sich selbst”. - Das Wort „Raub” wäre dann „etwas, was man nicht hergeben will”. Aber das ist nicht der Sinn von „Raub”; „Raub” bedeutet vielmehr: „gewaltsame, und also rechtswidrige Aneignung”. Menge meint, Jesus habe seine hohe Stellung nicht als einen unveräußerlichen kostbaren Besitz angesehen. Ist das die Art, wie man von einer Gnadengabe Gottes denken soll? Wenn der Logos mit der Gottgleichheit das allerhöchste Gut empfangen hätte, so wäre zu erwarten gewesen, daß er dafür bedingungslose Wertschätzung zeigte. Er hätte sich auch dieser Herrlichkeit gar nicht entäußern können. Leben in sich selbst zu haben, ist unveräußerlich.
Nun war das aber nach biblischer Aussage nicht so. Er hatte noch nicht die höchste Stufe seines Seins erlangt. Es war noch möglich, zur Gottgleichheit hinauf zu steigen. Diese Stellung sich durch Machtraub aber einfach zu nehmen, das kam für den Erstgeborenen nicht in Betracht. Liegt das nicht auf der Hand?
Doch Paulus redet hier, wie wir meinen, letzt-lich gar nicht von Jesus, sondern er lenkt die Aufmerksamkeit jetzt auf eine andere Persönlichkeit, die sich als überaus bedeutsame Kontrastfigur der Gestalt des Logos gegenüberstellt. Er erinnert daran, daß von einem geschrieben ist, der in seinem Herzen sprach: „Zum Himmel will ich hinaufsteigen, hoch über die Sterne Gottes meinen Thron erheben und mich niedersetzen auf dem Versammlungsberg im äußersten Norden. Ich will hinauffahren auf Wolkenhöhen, mich gleich machen dem Höchsten”. - Jesaja 14:13 und 14
Das Bild Satans, das in dem größenwahnsinnigen König von Babel dargestellt ist, bietet sich als ein - das Verständnis fördernder - Gegensatz an. Paulus hätte wohl nie in Zusammenhang mit Jesus von einem „Raub” gesprochen, wenn da nicht der Gegenspieler gewesen wäre, der rauben wollte.
Sicher ist es nicht unbedenklich, in der Bibel zwischen den Zeilen zu lesen. Hier, bei Paulus, scheint uns aber die Satzform die Gegenüberstellung des Widersachers - Satans - zu fordern, um einer unvernüftigen Deutung des Wortes „Raub” entgegenzutreten. Auch darf dieser Gedanke nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß auch Jesus nach Gottgleichheit getrachtet habe, und daß Paulus nur sagen wollte, er (Jesus) habe aber zu solcher Erhöhung einen besseren Weg gewählt, nämlich den der Selbsterniedrigung. Mit einer Spekulation auf Erhöhung zur Gottgleichheit war die Selbsterniedrigung Jesu unter keinen Umständen jemals verbunden. Das zeigt uns die Bitte zum Vater im hohepriesterlichen Gebet: „Und nun verherrliche du Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war”. - Johannes 17:5
Wir haben damit die drei von uns gestellten Fragen beantwortet:
- Besaß Jesus, bzw. der Logos, von Anbeginn an Gottgleichheit? Nein.
- Trachtete Jesus nach Gottgleichheit? Keineswegs.
- Was bedeutet Raub? Es bedeutet verbrecherische und gewaltsame Aneignung.
Nun können wir die Stelle Philipper 2:6 fortfolgende etwa im folgenden Sinne verstehen: „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war, welcher, indem er nach dem Bilde Gottes geschaffen war, keinen Gedanken daran hegte, auf dem Wege des Machtraubes Gottgleichheit zu erlangen, (wie Satan dies unternommen hatte), sondern vielmehr sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er an der Lebenstufe des Menschengeschlechts teilnahm, und - wie ein Mensch erfunden - sich selbst erniedrigte bis zum Sterben, ja zum Sterben am Kreuz”.
Irreführend ist die Auffassung, die in den meisten Wiedergaben zum Ausdruck gebracht wird, daß Jesus schon Gottgleichheit besessen, aber dann darauf freiwillig verzichtet habe, und daß es dieser Verzicht sei, der ihn auszeichnet. Diese Auffassung wird besonders in der Erklärung der Jubiläumsbibel zu unserem Leittext betont: „Göttliche Gewalt und Gestalt hatte Christus bei dem Vater von Ewigkeit her; gleichwohl wollte er diesen Besitz nicht selbstsüchtig festhalten wie ein Räuber seine Beute; vielmehr vertauschte er freiwillig seine Herrenstellung mit dem Knechtsstand, in den alle Menschen hineingeboren werden. Ja, er ging noch weiter im Gehorsam gegen seines Vaters Gnadenwillen, und aus Liebe zu uns erniedrigte er sich selbst, sogar bis zum Verbrechertod am Kreuz”.
Aber hier ist eben zu bedenken, daß Christus ja auf keine Hoheit, keinen göttlichen Adel, keine Ehre bei Gott verzichtet. Auch als Mensch behält er seinen geistigen Adel, verleugnet nicht seine himmlische Herkunft. „Ich bin ein König!”, antwortet er Pilatus. Daß seine Niedrigkeit eine Durchgangsstellung sei, verhehlt er nicht. Er verzichtet auf keine göttlichen Eigenschaften als nur auf die Macht.
Auch diese verlor er nicht, brachte sie aber nicht zur Geltung. - Matthäus 26:53 Damit will er die Menschen lehren, daß die Macht in der Hand des Menschen vom Bösen ist, und daß der Weg zu Gott und seiner Erkenntnis im Verzicht auf die Macht liegt. Aber nachdem er sein Werk vollbracht hat, wird er zu seiner himmlischen Stellung zurückkehren. Nicht Erhöhung erwartet er, aber Wiederherstellung der Herrlichkeit, die er um der Erlösung des Menschen willen verlassen hat. - Johannes 17:5, Hebräer 12:2 Gerade durch seine Demut und durch den Verzicht auf Gewalt erlangt der Herr nun jene Erhöhung zur Gottgleichheit, die der Machträuber (Satan) in seinem Hochmut nie erlangen konnte.
Zum Schluß möchten wir noch die Übersetzung des Reinhardt-Evangliums wiedergeben, die unserem Verständnis am nächsten zu kommen scheint: „Denn diese Gesinnung soll in euch sein, welche auch im Messias Jesus war, welcher, ob er wohl in Gottes Gestalt war, nicht daran dachte, das Gottgleichsein räuberisch sich anzueignen, sondern sich selbst entleerte, Knechtsgestalt annahm, anderen Menschen ähnlich ward und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Kreuzestode”.