Gethsemane

Auf dem Wege nach Gethsemane suchte Jesus seinen Jüngern klarzumachen, daß sie in eine schwere Entscheidungsstunde eingetreten seien. Er erinnerte sie an die Weissagung: „Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden zerstreut werden”. (Sacharja 13:7) Zugleich sagte er ihnen eindringlich, daß sie sich alle an ihm ärgern und in ihrer Entmutigung straucheln würden. Der Apostel Petrus, voller Vertrauen auf seine Liebe zu dem Herrn, erwiderte: „Wenn sich alle an dir ärgern werden, ich werde mich niemals ärgern”, und: „Selbst wenn ich mit dir sterben müßte, werde ich dich nicht verleugnen”. (Matthäus 26:33) Aber Jesus blieb dabei, daß sich Petrus in großer Gefahr befindet. Er vertraute nämlich auf sein Fleisch, statt in Gebet und Wachsamkeit zu Gott emporzublicken. Aber auch alle anderen Jünger redeten in derselben Weise (Vers 35) und verwahrten sich gegen den Argwohn, den Jesus geäußert hatte. Sie erklärten, daß sie treu bleiben würden und bereit, mit ihm zu sterben. Wie wenig ahnten sie, welch schwere Prüfungen ihnen bevorstanden!

Hieraus können alle Nachfolger des Herrn in der Tat eine Lehre ziehen. Es ist recht, daß wir völlig entschlossen sind, der Sache des Herrn bis zu unserem letzten Atemzuge zu dienen; ein solcher Entschluß ist notwendig, um den Sieg zu erlangen. Der Fehler, den manche begehen, ist der, daß sie sich nicht völlig bewußt sind, wie ernst die Prüfungen und Schwierigkeiten noch werden können, und daß sie sich ebensowenig dessen bewußt sind, daß sie in jeder Not des Beistandes ihres Herrn bedürfen. Der Apostel schreibt: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark”. (2. Korinther 12:10) Damit will er zweifellos sagen: Wenn ich dem Herrn völlig treu zu sein wünsche, dann empfinde ich meine Schwachheit und Unzulänglichkeit. Aber gerade darin liegt mein Schutz, weil ich mich dann ausdrücklich auf Gottes Beistand stütze, weil ich dann wache und bete und damit gegen die Versuchung gewappnet bin.

Betrübnis bis zum Tode

Am Garten Gethsemane angekommen, ließ Jesus acht seiner Apostel am Eingang des Gartens zurück und ging mit Petrus, Jakobus und Johannes tiefer in das Dunkel des Gartens hinein. Alle sollten wachen und auf der Hut sein, weil jetzt etwas geschehen sollte, was Jesus wohl wußte, was aber den Aposteln ganz unvorstellbar war.

Es war Mitternacht. Sie waren gewohnt, sich zu einer früheren Stunde zur Ruhe zu begeben. Die Spannungen, die die Ereignisse des Abends bei ihnen ausgelöst hatten und die Belehrungen, die ihnen der Meister erteilt hatte, wirkten so auf ihr Gemüt, daß sie ein starkes Schlafbedürfnis verspürten. Sie schliefen ein, statt zu wachen und zu beten, und sogar die drei, die dem Meister am nächsten standen, vermochten nicht, wach zu bleiben.

Jesus wünschte allein in der Gemeinschaft mit dem Vater zu bleiben und entfernte sich etwas von ihnen. Als sein Seelenkampf schwerer wurde, sehnte er sich nach menschlichem Mitgefühl; aber er fand seine geliebten Jünger schlafend. Der Prophet hatte treffend gesagt: „Von den Völkern war niemand bei mir”. (Jesaja 63:3) Hier trat Jesus die „Kelter” des Schmerzes allein.

Erst nachdem er seine Ermahnungen an seine Jünger vollendet hatte, und nachdem er einige von ihnen zur Bewachung des Gartens zurückgelassen hatte, sammelte er seine Gedanken zur Betrachtung der schweren Erfahrungen, die in wenigen Stunden über ihn hereinbrechen sollten. Eine schwere Last wälzte sich plötzlich auf seine Seele. Er rief aus: „Meine Seele ist betrübt bis zum Tode!” Mit anderen Worten: Ich habe das Gefühl, als würde ich jetzt sterben, ohne daß es zu der großen Krisis kommen sollte, die mir bevorsteht. - Wir lesen, daß „er anfing, betrübt und beängstigt zu werden”.

Dieses Gefühl des Elends, des Verzagtseins, das plötzlich über den Heiland kam, hielt einige Zeit an, denn er ging dreimal im Gebet zum Vater und bat Ihn, daß diese Stunde und diese furchtbare Bedrückung, die sein Herz brach, an ihm vorübergehen möchten. Der Evangelist Lukas, der Arzt war, berichtet, daß die Not des Meisters derart gewesen sei, daß bei ihm ein blutiger Schweiß ausbrach. Wenn nun auch diese Feststellung von dem blutigen Schweiß in einigen der älteren Handschriften fehlt, so ist doch richtig, daß die Ärzte darin übereinstimmen, daß sich etwas derartiges bei Anlaß großer Seelenangst schon ereignet habe.

Der Grund der Angst des Meisters

Wie erklärt sich diese Angst des Meisters vor dem Tode, da er doch im voraus Kenntnis von diesem Ausgang gehabt und auch den Jüngern Mitteilung davon gemacht hatte, wobei er ihnen auch gesagt hatte, daß er am dritten Tage auferstehen werde? Warum hatte der Gedanke an den Tod für unseren Meister so viel mehr Schrecken als für manche seiner Nachfolger, ja mehr, als für die Menschen im allgemeinen?

Hunderte von Märtyrern sind einem ebenso schrecklichen, wenn nicht schrecklicheren Tode entgegengegangen. Hunderte haben großen Mut und große Festigkeit angesichts eines gleich schrecklichen Todes an den Tag gelegt. Wie sollen wir uns diesen Zustand des Heilandes erklären, sowie sein ernstes Gebet, daß diese Stunde (Markus 14:35) oder dieser Kelch (Matthäus 26:39) an ihm vorübergehen möchte?

Um diese Frage zu verstehen und richtig zu beantworten, müssen wir in Betracht ziehen, wie sehr sich unser Meister von allen übrigen Menschen unterschied. Ein Todesurteil liegt auf der ganzen Welt. Wir alle wissen, daß es lediglich eine Frage der Zeit ist, wann wir sterben werden. Wir alle wissen, daß der Todeskampf nur einige Stunden dauern kann. Wir haben keine Hoffnung, dem Tode zu entgehen, und da wir gewissermaßen schon zu neun Zehnteln tot sind, befinden sich unsere Bewußtseinskräfte in einer mehr oder weniger großen Betäubung. Wir haben uns mehr oder weniger mit diesen Tatsachen abgefunden.

Es gibt Soldaten, die sich angesichts des gewissen Todes anscheinend ohne Furcht in die Schlacht stürzen. Den größten Mut aber offenbaren diejenigen, die wissen und völlig abwägen, was sie tun, die zwar den Tod sehr fürchten, aber nichts destoweniger, dem Gebot ihrer Pflicht und der Liebe gehorchend, unentwegt vorwärtsschreiten. Jesus war ein solcher Kämpfer. Er hatte wie kein anderer erkannt, was der Tod wirklich ist, und er schätzte die Bedeutung und den Wert des Lebens wie kein anderer.

Jesus hatte die himmlische Herrlichkeit verlassen. Er hatte sich seiner höheren, geistigen Natur entäußert und die menschliche Natur angenommen, damit er nach Gottes Vorsatz als ein Lösegeld für den sündigen und verurteilten Menschen sterben könne. Dies war des Vaters Wille. Der himmlische Vater hatte unserem Herrn verheißen, ihn, wenn er sein Erlösungsopfer dargebracht haben würde, von den Toten aufzuerwecken auf geistige Daseinsstufe und ihn mit größeren Ehren zu bekleiden, als er sie vor seiner Menschwerdung besessen hatte.

Unser Herr zweifelte nicht an der Treue des Vaters, und ebensowenig zweifelte er an Seiner Macht. Aber die Verheißung war an Bedingungen geknüpft: Unser Herr sollte nur dann zu einer höheren Daseinsstufe erweckt werden, wenn er seinen Auftrag getreu hinausgeführt hätte.

Dreieinhalb Jahre seines Lebens waren der Hinausführung des göttlichen Willens geweiht gewesen. Die einzige Frage, um die es sich hier handelte, war die: Hatte Jesus den göttlichen Willen vollkommen und restlos erfüllt - und zwar in einem Geiste, wie er dem Vater wohlgefiel? Und würde Jesus auch durch die Erfahrungen der kommenden Stunden mit dem rechten Mut, dem rechten Glauben und dem rechten Gehorsam hindurchgehen können? Oder würde er zu kurz kommen in den Augen dessen, „der ihn aus den Toten zu erretten vermochte”?

Für den Meister gab es keinen Fürsprecher

Wir sehen aus alledem, daß der Meister einen Weg zu wandeln hatte, der sich von dem seiner Nachfolger wesentlich unterschied. Wir haben nichts zu verlieren, denn als Abkömmlinge Adams befinden wir uns allesamt unter dem Todesurteil. Die Nachfolger Jesu wissen zudem, daß der Gottessohn für sie gestorben ist und daß dessen Verdienst ihre Unvollkommenheiten ausgleicht, weil sie in ihm bleiben und des Vaters Willen zu tun begehren.

Aber der Meister hatte keinen Fürsprecher, der für ihn hätte eintreten können, falls sein Werk unvollkommen erfunden worden wäre. Wenn wir uns diese Tatsachen vor Augen halten, dann können wir die Worte des Apostels verstehen, nach denen der Herr „in den Tagen seines Fleisches sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tode zu erretten vermochte, dargebracht hat”. (Hebräer 5:7) Überdies stand noch eine besondere Segnung auf dem Spiel, die Gott ihm als Belohnung für seine besondere Treue verheißen hatte. Diese bestand in dem großen Vorrecht, während des Tausendjährigen Reiches das große Werk der Emporhebung der Menschen aus Sünde und Tod ausführen zu dürfen. Zusammengefaßt: In jener Nacht in Gethsemane lagen auf der Waagschale einmal das zukünftige Leben des Herrn und sodann alle Aussichten auf Herrlichkeit, Ehre und Unsterblichkeit und seine Erhöhung auf den Platz zur Rechten des Vaters.

Kein Wunder, daß der Meister, der sich all dessen klar bewußt war, von diesem Gedanken überwältigt wurde. Kein Wunder, daß er den Wunsch hegte, daß ihm die schrecklichen Erfahrungen der vor ihm liegenden Stunden erspart bleiben möchten, wofern der Plan Gottes auf einem anderen Weg zum Ziele geführt werden könnte! Ein Teil seines Grauens aber bestand sicher darin, daß er als Missetäter, Gotteslästerer, als Feind Gottes und der Gerechtigkeit den Tod erleiden sollte.

Für einen gesunkenen und gemeinen Menschen würde dieser Umstand nicht viel bedeutet haben; aber für den, der voller Liebe und Treue gegen den Vater war, war dieser Gedanke furchtbar. Er, der alles, sogar seine himmlische Herrlichkeit und seine menschlichen Rechte aufgeopfert hatte, um den Willen des Vaters zu tun, sollte nun als Missetäter oder Verbrecher gekreuzigt werden! Welch eine furchtbare Erfahrung mußte das für den sein, der einen so lauteren und edlen Charakter hatte, und von dem geschrieben steht, daß er „heilig, unschuldig, unbefleckt und abgesondert von den Sündern” war!

Es scheint, daß der Kelch, von dem Jesus den Vater bat, daß Er ihn an ihm möchte vorübergehen lassen, gerade diese Schmach bedeutete. Jesus betete nicht, daß der Vater ihn vor dem Tode bewahren möchte, denn er wußte, daß er in die Welt gekommen war, um für die Menschheit zu sterben, und daß er die Todesstrafe, die auf dem Menschengeschlechte lastete, nur durch seinen Tod beseitigen konnte. Jesus hatte mehrmals von seinem Tode geredet und nie den Gedanken aufkommen lassen, dem Tode zu entgehen. Er wußte sehr wohl, daß „Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können”. Aber er hatte gehofft, daß ihm der Vater durch irgendwelche Mittel diese besondere Schmach ersparen würde. Nichtsdestoweniger betete der Meister selbst in dieser Stunde höchster Not: „Doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe”.

Der Apostel Paulus bezeugt uns nämlich, daß die Gethsemaneerfahrungen des Meisters mit Furcht verbunden gewesen sind - nicht mit Furcht vor dem Tode, sondern mit der Furcht, möglicherweise im Tode verbleiben zu müssen, mit der Furcht, möglicherweise der glorreichen Auferstehung, die ihm auf die Bedingung völligen Gehorsams hin verheißen war, verlustig zu gehen. Dieser Gedanke erklärt die oben angeführten Worte des Apostels: „Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn (durch Auferweckung) aus dem Tode zu erretten vermochte, mit starkem Geschrei und Tränen dargebracht hat und um seiner Frömmigkeit willen erhört worden ist …”

Der Vater gab ihm also die Versicherung, daß er aus dem Tode errettet werden würde - und er wurde aus dem Tode errettet. Dies ist die Erklärung für die Feststellung, daß ihm ein Engel vom Himmel erschien und ihn stärkte (Lukas 22:43). Das heißt, er gab ihm die Zusicherung vom Vater, daß er bis zuletzt treu gewesen sei, und daß der Segen des Vaters ihn auch noch durch die Stunde der Prüfung, die ihm bevorstünde, begleiten werde. Von diesem Augenblick an waren seine Angst und Furcht verschwunden. In dem Bewußtsein, daß das Wohlgefallen des Vaters auf ihm ruhe und der Segen des Vaters ihn begleite, vermochte er alles zu tragen, was ihm noch bevorstand. Während des übrigen Teiles der Nacht und während des folgenden Tages war Jesus unter den schwierigsten Verhältnissen die Ruhe selbst. Er tröstete diejenigen, die um seinetwillen weinten; er befahl seine Mutter dem Apostel Johannes an und zeigte alle Fürsorge für andere.

CTR



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung