Dies erwäget |
Was unser Herr fürchtete, und wovon er gerettet wurde
„Christus ist erhört worden in dem, was er fürchtete.” (Hebräer 5:7)
Unser Herr befürchtete nicht, daß Gottes Liebe oder Seine Verheißungen ein Fehlschlag sein würden. Er wußte, daß Gott treu war; daß Gott Seine Bündnisse hält, und daß Sein ganzes Verfahren auf den ewigen Grundsätzen der Wahrheit und Gerechtigkeit beruht. Von diesen Grundsätzen auch nur im geringsten abzuweichen, wäre moralisch unmöglich. Der Herr wußte aber auch, daß der Erlösungsplan der Menschheit von dem Gehorsam des gesalbten Hohenpriesters abhängig gemacht worden war. Dieser Gehorsam betraf jeden Punkt und Jota des Gesetzes, der sich auf ihn bezog. So wird es in dem vorbildlichen Stiftshüttendienst gezeigt. Das Opfer muß nicht lediglich dargebracht werden, sondern es muß auch genau nach der Vorschrift geschehen.
Wenn der vorbildliche Hohepriester Aaron zu irgend einer Zeit verfehlt hätte, die die Opferung betreffenden Vorschriften zu befolgen (siehe 3. Mose 9:16); wenn er irgend einen Teil der Vorschriften vergessen oder unbeachtet gelassen hätte; oder wenn er an deren Stelle einige seiner eigenen Ideen eingeführt hätte, so wäre es ihm nicht erlaubt worden, das Blut eines so unvollkommenen Opfers auf den Sühnedeckel zu sprengen; sein Opfer wäre nicht angenommen worden; er wäre gestorben und hätte nicht herauskommen und das Volk segnen können. (3. Mose 16:2 und 3)
So sehen wir, daß unser Herr bei dem Unternehmen, das große Werk der Erlösung hinauszuführen, die Ausgänge des Lebens und des Todes nicht nur für die gesamte Menschheit, sondern auch für sich selbst auf sich nahm. Bildlich gesprochen nahm er sein Leben in seine eigene Hand. Kein Wunder also, wenn sich der Herr unter der Last seiner Verantwortung fürchtete! Die Anspannung durch die Prüfungen, denen er ausgesetzt war, war selbst für die vollkommene menschliche Natur ohne göttlichen Gnadenbeistand zu groß. Darum wandte er sich häufig im Gebet um Gnade und Hilfe zu jeder Zeit der Not an den Vater.
Betrachten wir den großen Kampf der Leiden, durch den er ging (siehe Schriftstudien, Band V):
- die listigen und verführerischen Versuchungen in der Wüste
- den Widerspruch der Sünder
- die respektlose Undankbarkeit derer, die er zu retten kam
- seine Armut
- den Verlust seiner Freunde
- seine Arbeiten und Mühen seine Heimatlosigkeit
- seine bitteren und unerbittlichen Verfolgungen
- und schließlich seinen Verrat und seinen Todeskampf
Sicherlich waren die Prüfungen seiner Ausdauer und seines Gehorsams entsprechend den genauen Anforderungen des Opfergesetzes unter diesen Umständen sehr anspruchsvoll. Dies bewirkte in unserem Herrn große Vorsicht. Gott hatte ihm verheißen, daß er in die Ruhe eingehen und zu der Herrlichkeit, die auf den Versöhnungstag folgen soll, gelangen sollte. Er fürchtete sich jedoch davor, daß er die Anforderungen an sein Priesteramt, einen annehmbaren Dienst zu leisten, nicht vollständig erfüllen könnte. So sollen auch wir, wie der Apostel (Hebräer 4:1) sagt: „Uns fürchten, daß nicht etwa, da so eine Verheißung, in seine Ruhe einzugehen, hinterlassen ist, jemand von uns zu kurz gekommen zu sein scheine.”
„Den Kelch, den mir mein Vater gegeben, soll ich ihn nicht trinken?”
Als für unseren Herrn die letzte Nacht seines irdischen Lebens gekommen war, stellte er sich die folgenden Fragen immer eindringlicher: „Habe ich bisher alles in genauer Übereinstimmung mit dem Willen Gottes getan? Und nun angesichts der Schmerzen, die er bringen wird, bin ich imstande, den bitteren Kelch und seine Hefen zu trinken? Werde ich imstande sein, nicht nur die körperlichen Schmerzen, sondern auch die Schmach und Schande und den grausamen Spott zu ertragen? Und zwar so vollkommen, daß ich Gott in meiner eigenen Gerechtigkeit vollkommen annehmbar sein werde? Werde ich es ertragen können, zu sehen, wie meine Jünger zerstreut und entmutigt werden, und wie mein Lebenswerk scheinbar zerstört wird, mein Name und die Sache Gottes mit Schande bedeckt werden, und meine Feinde triumphieren und sich rühmen? Werde ich dies so ertragen können, daß ich vom Vater das „Wohlgetan!” hören werde?”
So trug sich der letzte Kampf unseres Herrn zu. Zweifellos waren die Mächte der Finsternis in dieser schrecklichen Stunde sehr geschäftig. Sie wollten die Umstände seiner Schwachheit und Müdigkeit ausnutzen, um ihn in seiner Hoffnung zu entmutigen. Sie wollten seine Gedanken mit Befürchtungen darüber vergiften, daß er schließlich doch verfehlen würde oder verfehlt habe, das Werk in annehmbarer Weise zu verrichten - und daß darum eine Auferstehung ungewiß sei. Kein Wunder, daß das vollkommene menschliche Herz bei solchen Betrachtungen zusammensank, und daß eine schmerzhafte Gemütsbewegung große Tropfen blutigen Schweißes hervorbrachte! Hat er schließlich den Entmutigungen nachgegeben und den großen Kampf eingestellt, als diese ernste Prüfung über ihn kam? Nein! Er ging mit diesen menschlichen Befürchtungen zu seinem Himmlischen Vater, „zu dem, der ihn aus dem Tode zu erretten vermochte”, damit sein menschlicher Wille durch göttliche Gnade gestärkt werden möge. Denn er wollte vorwärts gehen und sein Opfer in Gott annehmbarer Weise vollenden; sich rückhaltlos als ein Lamm zur Schlachtbank wegführen lassen und als ein Schaf, das vor seinen Scherern stumm ist und seinen Mund nicht zur Selbstverteidigung öffnet. (Jesaja 53:7)
Seine Gebete zu seinem Vater waren nicht vergeblich. „Er wurde erhört in dem, das er fürchtete.” Wenn er auch nur wenige Worte machte (denn Worte vermochten nicht die Gemütsbewegung seiner Seele zum Ausdruck zu bringen), sein gezüchtigter Geist legte für ihn die ganze Zeit mit unausgesprochenen Seufzern Fürsprache ein. (Römer 8:26) Schließlich sandte Gott einen Engel, ihn zu trösten und ihm zu dienen; ihn auch jetzt noch der Gunst Gottes zu versichern und ihm so neuen Mut und Kraft des Geistes und Standhaftigkeit der Nerven zu geben, um all das ertragen zu können, was vor ihm lag - bis in den Tod.
Mit diesem Beistand göttlicher Gnade ging unser Herr von da an mit unerschütterlichem Mut voran, das ihm aufgetragene Werk zu vollenden. Er konnte jetzt ruhig vor seine geliebten aber müden und verwirrten Jünger treten und zu ihnen sagen: „So schlaft denn fort und ruhet aus.” (Matthäus 26:45)
Die Bitterkeit des geistigen Kampfes war vorüber. Das in seine Seele leuchtende Himmelslicht hatte die Dunkelheit verscheucht, die zuvor wie ein Leichentuch über ihm hing und ihn „betrübte bis zum Tode”. Ja, „er wurde erhört in dem, das er fürchtete”; die Furcht wurde ganz von ihm genommen. Stark in der Kraft, die Gott gibt, fühlte er, daß er das angenehme Opfer darbringen konnte. So konnte er jeden Punkt und jedes Jota der Anforderung des Gesetzes erfüllen - und damit wäre seine Errettung aus dem Tode, seine Auferstehung, gesichert.
„Lernte den Gehorsam an dem, was er litt.”
Die Furcht unseres Herrn war keine sündige Furcht. Es war eine Furcht, an die auch wir, die wir in seinen Fußstapfen wandeln wollen, erinnert werden. Wir müssen sie besitzen, damit wir nicht verfehlen, die kostbaren Verheißungen zu beherzigen, die an gute und unveränderliche Bedingungen geknüpft sind. (Hebräer 4:1) Die Furcht unseres Herrn wurde nicht durch einen Zweifel über die Fähigkeit oder Bereitwilligkeit des Vaters erzeugt, all Seine Verheißungen zu erfüllen. Sie entstand aus der Erkenntnis der gerechten Prinzipien, die in jeder Hinsicht die Verfahrensweise des Vaters bestimmen müssen. Es war die Furcht vor dem unveränderlichen Gesetz, saß in Gerechtigkeit den Lohn des ewigen Lebens und der Herrlichkeit an die Erfüllung seines Opferbundes geknüpft hatte - oder des ewigen Todes, wenn er nicht treu sein würde. Zur gleichen Zeit fing er an zu spüren, daß sein Herz und sein Fleisch - trotz der Vollkommenheit als menschliches Wesen - versagen würden, wenn sie nicht durch göttliche Gnade gestärkt würden. Der Psalmist drückt diese Furcht des Herrn aus und nennt die Quelle, aus welcher er Hilfe schöpfte, wenn er sagt. „Vergeht mein Fleisch und mein Herz - meines Herzens Fels und mein Teil ist Gott auf ewig.” (Psalm 73:26) Es war die Furcht eines Sohnes, die mit seiner Verwandtschaft zu Gott als Seinem anerkannten Sohn im Einklang steht; „denn obwohl er Sohn war, lernte er an dem, was er litt, den Gehorsam.”(Hebräer 5:8)
Wir freuen uns zu wissen, daß Jesus nicht kalt und unempfindlich war, sondern voll warmer, liebevoller, zarter Gefühle und Neigungen. Dadurch können wir verstehen, wie er mit den Zartesten, den Empfindlichsten, Feinfühlendsten und Edelsten Mitleid haben konnte, mehr als irgend ein anderes menschliches Wesen. Er muß die Bedingungen als schmerzlich empfunden haben, denen er sich unterstellt hatte, um sein Leben für uns niederzulegen. Je vollkommener ein Organismus ist, desto empfindlicher und angespannter sind seine Gefühle; je größer die Aufnahmefähigkeit für die Freude, desto größer ist auch die Aufnahmefähigkeit für das Leid. Da unser Herr absolut vollkommen war, muß er über die Maßen mehr empfindlich für die Einflüsse von Schmerzen als andere gewesen sein.
„Dem, der ihn zu retten vermochte, hat er starkes Geschrei und Tränen geopfert.” Außerdem wußte er, daß er ein vollkommenes, unverwirktes Leben besaß, das er nun ohne Urteil von sich gab. Alle anderen Vertreter des Menschengeschlechts besitzen nur ein verwirktes und verurteiltes Dasein und sie wissen, daß sie es einmal von sich geben müssen. Es war daher für unseren Herrn eine ganz andere Angelegenheit, sein Leben niederzulegen, als es für einen seiner Nachfolger ist. Wenn wir das vollkommene Leben als das 100-prozentige Maß voraussetzen, so besaß unser Herr auch die vollen 100% zum Niederlegen. Wir hingegen sind durch Übertretungen und Sünden verurteilt und zu über 99% tot. Im besten Fall besitzen wir überhaupt nur 1% des Lebens, das wir niederlegen können. Eine kalte, unempfindliche Gleichgültigkeit über den Verlust des Lebens, die sich auf die Erkenntnis stützt, daß es doch nur kurze Zeit dauern kann, unterscheidet sich von der klaren Erkenntnis, die unser Herr hatte. Er besaß Erfahrung, die er beim Vater gemacht hatte, „ehe der Welt Grund gelegt ward”. Jesus war bewußt, daß das niederzulegende Leben nicht durch Sünde verwirkt war, sondern sein eigenes freiwilliges Opfer.
Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß dieser Gedanke der Auslöschung des Lebens eine besondere Ursache der Betrübnis unseres Herrn darstellte. Der Apostel bringt dies in den folgenden Worten deutlich zum Ausdruck (Hebräer 5:7): „Der in den Tagen seines Fleisches … sowohl Bitten als Flehen mit starkem Geschrei und Tränen zu dem opferte, der ihn aus dem Tode zu erretten vermochte, und erhört worden ist in dem (in bezug auf das), was er fürchtete” - Vernichtung, Auslöschung des Lebens. Dieser Gedanke zog einen weiteren nach sich, nämlich die Frage: Hatte er den Willen des Vaters vollkommen getan? Konnte er den verheißenen Lohn, eine Auferstehung von den Toten, beanspruchen, und würde er ihn empfangen?
Wenn er im geringsten Maße verfehlt hätte, den ganzen Maßstab der Vollkommenheit zu erreichen, so würde sein Tod die Vernichtung bedeutet haben. Alle Menschen fürchten die Vernichtung durch den Tod - jedoch nur derjenige, der nicht nur vollkommenes Leben besessen hatte, sondern auch im Besitz der Erinnerung an seine vorherige Herrlichkeit bei dem Vater vor Grundlegung der Welt war, konnte auch die volle Tiefe und Kraft ihrer Bedeutung erkennen. Für ihn mußte selbst der Gedanke an die Möglichkeit der Vernichtung Schmerzen und Seelenangst mit sich bringen. Dieser Gedanke war bei unserem Herrn zuvor offenbar nicht mit derselben Kraft ausgeprägt vorhanden. Das war es also, was jetzt so schwer auf ihm ruhte und ihn bis zum Tode betrübte. Er sah, daß er nach dem Gesetz im Begriff war als ein Übeltäter zu leiden, und die Frage stieg naturgemäß in ihm auf: War er völlig schuldlos, und würde der himmlische Richter ihn völlig freisprechen, wo doch so viele dazu neigten ihn zu verurteilen?
„Konntet ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?”
Nachdem er gebetet hatte, ging er zu seinen drei Jüngern und fand sie schlafend vor. Er tadelte sie milde mit der Frage: „Konntet ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet.” Mit diesen Worten ging unser Herr weg und gebrauchte dieselben Worte in seinem Gebete; und wiederum betete er zum dritten Mal. Diese Angelegenheit lastete schwer auf seinem Herzen. Konnte er damit rechnen, daß er alles in annehmbarer Weise getan hatte, nachdem er bestrebt gewesen war, den Willen des Vaters zu tun, und nachdem er seinen Lauf vollendet hatte? Konnte er volle Gewißheit des Glaubens haben, daß Gott ihn durch eine Auferstehung aus dem Tode erretten würde? Zur Antwort auf diese Bitte wurde ein himmlischer Bote gesandt, um ihn zu trösten, ihm der Erfüllung der Anforderungen zu versichern und um ihn zu stärken. Es ist uns nicht berichtet, welche Botschaft der Engel gebracht hat, aber wir können erkennen, daß es eine Botschaft des Friedens war. Er brachte nicht nur die Versicherung, daß der Lauf unseres Herrn dem Vater angenehm sei, sondern daß er auch durch eine Auferstehung von den Toten zurückgebracht werden würde. Das genügte unserem Herrn, ihm all die Kraft und den notwendigen Mut für die vor ihm liegende Feuerprobe zu verleihen. Von diesem Augenblick an sehen wir, daß er die gelassenste und ruhigste aller hervorragenden Persönlichkeiten war, die wir kennen. Als Judas und seine Schar zu ihm kamen, besaß er vor ihnen allen Ruhe und Selbstbeherrschung; vor dem Hohepriester Kaiphas war er ebenso; vor Pilatus desgleichen; und genauso war es bei der Kreuzigung. Er hatte durch die Botschaft, daß er dem Vater angenehm war und in der Versicherung, daß die gnädigen Verheißungen von Ehre, Herrlichkeit und Unsterblichkeit ihm gehörten, Frieden gefunden. Er konnte jetzt jede Feuerprobe durchstehen - er konnte sich vollkommen in die Hände seiner Feinde begeben.
WT vom Juli 1911