Charakterzüge eines gesunden Sinnes

„Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.” (2. Timotheus 1:7)

In diesem Text spricht Paulus zu Gottes Kindern - zu denen, welche die Welt verlassen haben. Er spricht zu denen, die der Sünde und Selbstsucht den Rücken gekehrt haben; welche vom Heiligen Geist gezeugt sind, weil sie sich völlig geweiht haben. Ihnen hat der Fürsprecher sein Verdienst zugerechnet. Sie haben seinen Geist empfangen - die neue Gesinnung - und so besitzen sie den Geist eines gesunden Sinnes.

Zu Beginn des Evangelium-Zeitalters gab es bemerkenswerte Offenbarungen des Heiligen Geistes, welche als „die Gaben des Geistes” bekannt waren. (1. Korinther 12:4 - 11) Dazu gehörten zum Beispiel die Erkenntnis, Heilungen, Wunderwirkungen, Sprachen usw. Diese Gaben wurden zu jener Zeit aus zwei Gründen verliehen: Erstens, um zu bezeugen, wer Gottes Volk war, und zweitens, um den Glauben der ersten Kirche zu gründen. Sie waren notwendig, damit die Kirche sozusagen einen Anfang haben konnte.

Der Apostel sagt, daß diese wunderbaren Gaben nur eine Zeitlang, die Früchte des Geistes aber ewig bestehen bleiben sollten - Sanftmut, Geduld, Milde, brüderliche Freundschaft, Glaube, Hoffnung und Liebe, die größte von allen. (1. Korinther 13) Die Gaben des Geistes starben mit dem Tode der Apostel und derer aus, welche diese Gaben verliehen hatten. Aber die Früchte und Tugenden sind bis auf den heutigen Tag geblieben.

Sobald wir vom Heiligen Geist gezeugt worden sind, beginnt ein umgestaltendes Werk in uns. Aber im allgemeinen ist der Empfang des Heiligen Geistes zunächst ohne spürbare Offenbarung. Wir wachsen in Erkenntnis, Liebe und allen Früchten des Geistes, in dem Maße, in dem wir den Heiligen Geist erhalten haben. Er ist uns gegeben, um unseren Geist und unser Herz zu entwickeln und ein umgestaltendes Werk zu tun und die Früchte des Geistes in unserem Charakter und in unserem Leben zu entwickeln. Bei einigen von uns entwickeln sich die Früchte schnell; bei anderen langsam.

Die Gaben des Weinstockes sind die Trauben, die er trägt. Wie das Fruchttragen in der Natur ein Wunder ist, so sind es auch die Früchte und Tugenden des Geistes, die unser Leben zeigt. Sie entwickeln sich aber so langsam, daß man sie nicht ohne weiteres als Wunder wahrnimmt.

Der Herr ist der wahre Weinstock, und seine wahren Jünger sind die Reben. Der Geist des Weinstockes muß alle Reben durchdringen. Die Frucht des Weinstockes muß an jeder Rebe erscheinen. Wir sollten nie vergessen, daß unsere schließliche Segnung und Annahme durch den Vater von unserem Verbleiben in diesem gesegneten Verhältnis von Reben am Weinstock abhängt und davon, daß wir Frucht bringen. Wenn wir das nicht tun, so werden wir nicht in diesem Verhältnis bleiben. Wenn wir aber reichlich Früchte des Geistes hervorbringen, so werden wir eines Tages Reben an dem verherrlichten Weinstock sein - dem Gesalbten Gottes.

Furcht eine Form der Selbstsucht

In unserem Leittext erörtert der Apostel den Charakter dieses Geistes, den Gott uns gegeben hat. Es ist nicht der Geist der Furcht, noch der Geist des Schreckens, noch der Geist der Furchtsamkeit. Mit dem Geist der Selbstsucht ist mehr oder weniger Furcht verbunden. Wir sehen, daß der Geist der Furcht unsere ersten Eltern veranlaßte, sich vor dem Herrn zu verstecken. Wir erinnern uns daran, daß Kain sich fürchtete und floh. (1. Mose 3:10 und 4:14) Der Geist der Furcht hat durch alle Zeitalter hindurch einen mächtigen Einfluß auf die Menschheit ausgeübt. Wenn sich ein Sturm erhebt, so handeln manche Leute, als ob sie fürchteten, daß er besonders über sie hereinbrechen würde.

In aller Selbstsucht, die durch Furcht zum Ausdruck gebracht wird, erkennen wir die Merkmale der Selbstliebe. Die Leute fürchten, daß sie etwas von den Dingen verlieren könnten, die sie selbstsüchtigerweise zu behalten wünschen. Der Geist vieler Heiden und auch vieler Christen ist ein Geist der Furcht. Sie dienen Gott nicht mit dem Wunsch, Mitarbeiter an Seinem Werk zu sein, sondern aus Furcht. Es ist ihnen gesagt worden, daß sie zur Kirche gehen sollen. Sie wissen nicht, was Gott ihnen antun würde, wenn sie dies vernachlässigten. Einige Geistliche haben gesagt: „Wenn ich nicht an eine ewige Qual glauben würde, dann würde ich sicherlich viel Böses tun.” Durch diese Worte zeigen sie, daß es nicht der Heilige Geist ist, der sie antreibt, sondern ein Geist der Furcht - ein Geist, der zur Sünde gehört. Der Geist der Furcht kommt nicht von Gott.

Es gibt allerdings eine heilige Furcht, die wir auch Ehrfurcht nennen - eine Furcht davor, etwas zu tun, was Gott beleidigen könnte. Auch sollten wir uns fürchten, einen Freund zu beleidigen. Wir sollten uns fürchten, einen Freund oder irgend jemanden zu verletzen oder ihm Unrecht zuzufügen. Wenn wir unseren Himmlischen Vater lieben, so sollten wir uns scheuen, etwas zu tun, was Ihm mißfällt.

In Hebräer 4:1 sagt der Apostel: „Fürchten wir uns nun, daß nicht etwa, da eine Verheißung, in seine Ruhe einzugehen, hinterlassen ist, jemand von euch scheine zurückgeblieben zu sein.” Laßt uns nicht Böses fürchten, sondern laßt uns in Furcht anstrengen, damit wir nicht die Segnungen verlieren, die den Überwindern verheißen sind. Gott wird diese Segnungen nur denen geben, welche eine bestimmte Entwicklung des Charakters erreichen. Die weltliche Furcht ist völlig unbegründet. Wenn jemand vom Volk des Herrn diese Furcht hat, so ist sie nicht aus dem Geist der Wahrheit entstanden, sondern stammt aus einer anderen Quelle.

Verwandelnder Einfluß des Heiligen Geistes

Der Apostel fährt fort, uns zu sagen, was uns der Geist des Herrn gegeben hat. Er ist ein Geist der Macht und der Kraft gewesen. Alle, die sich bemühen, nach dem Geiste zu wandeln und die die Liebe des Herrn kennen, will Er nicht verlassen. Vielmehr will Er sie von dem Bösen befreien. Diese besitzen einen mutigen Geist oder Einfluß des Geistes, der von dem Geist der Kraft ausgeht. Er verleiht ihnen solche Energie, daß sie imstande sind, mehr zu tun, als sie normalerweise könnten. Sie sind über sich selbst erstaunt. Sie besitzen den Frieden Gottes, der in ihnen sowohl das Wollen wirkt, als auch das Vollbringen nach Seinem Wohlgefallen. (Philipper 2:13)

Wer die Wahrheit empfangen hat, verändert sich. Sein Wesen unterscheidet sich deutlich von dem, das er besaß, bevor er die Wahrheit empfing. In der Regel erkennen Freunde und Nachbarn diese Veränderung. Wo eine Ehefrau zur Erkenntnis der Wahrheit kommt, ist ihr Gatte oft erstaunt, wie viel stärker ihr Gerechtigkeitssinn ausgeprägt ist. Diese Entschiedenheit ist kein Geist der Dreistigkeit, sondern der Geist der Gewißheit, daß Gott imstande und willens ist, alle Dinge zum Guten mitwirken zu lassen. Ebenso ist es mit dem Ehemann. Viele Frauen haben gesehen, wie die Wahrheit den Gatten gestärkt hat. Diese Veränderung entsteht durch den Geist der Kraft, den der Herr Seinem Volk verliehen hat. In dem Maße, in dem wir diesen Geist erhalten, empfangen wir seine Macht. Einige Charaktere sind bereits von Natur aus stark. Die Wahrheit wird sie jedoch stärker machen. Andere, von Natur aus schwach, werden so viel stärker gemacht, daß sie ihre Freunde und Nachbarn in Erstauen versetzen.

Alle, die sich in der Schule Christi befinden, scheinen die gleiche Entwicklung zu erleben. Sie verändern sich, indem sie bessere Menschen werden. Sie sehen nicht unbedingt besser aus, aber der Geist des Herrn hilft ihnen, sich ordentlich zu kleiden. Er hilft ihnen, achtsamer auf ihre Wortwahl und ihren Umgangston zu sein. Er beeinflußt ihre Worte und Handlungen - ja, ihr gesamtes Verhalten. Er macht sie geduldiger und freundlicher. Alle diese Eigenschaften werden in zunehmenden Maße offenbar.

Menschen in der Umgebung geweihter Kinder des Herrn bemerken oft verwundert, wie viel diese von den Angelegenheiten der Welt wissen. Gottes Wort gibt uns diese weite Erkenntnis, und Sein Geist gibt uns auch die Kraft, diese Erkenntnis zu gebrauchen und sich anzueignen.

Wir empfangen auch den Geist der Liebe. Der Apostel sagt, daß der Geist Gottes der Geist der Liebe ist, weil Gott Liebe ist. (1. Johannes 4:8) Gottes Geist ist Gottes Gesinnung, Gottes Absicht, Gottes Einfluß. Da Gott Liebe ist, so muß Sein Geist an allen Eigenschaften teilhaben, welche die Liebe ausmachen.

In dem Maße, in dem wir den Heiligen Geist besitzen, werden wir auch Liebe empfinden - zuerst zu Gott, dann zu den Kindern Gottes, dann zu unseren Nachbarn und Freunden und schließlich wird sie sich auch auf unsere Feinde erstrecken. Sie wird uns dahin bringen, auch gegen alle Tiere rücksichtsvoll zu sein. Der Geist der Liebe übt einen allgemeinen wohltätigen Einfluß aus. Was die Gedanken beeinflußt, wird sich auch auf die Worte auswirken. Wer den Geist der Liebe besitzt, wird seinen Einfluß offenbaren. Er wird liebevoller und liebenswürdiger werden, wenn dieser Geist zunimmt.

Rücksichtslosigkeit gegen die Rechte anderer ist eine Form der Selbstsucht

Schließlich redet der Apostel von dem Geist eines gesunden Verstandes. Der Mensch wurde mit einem gerechten Sinn erschaffen. Adam und Eva bedurften keiner äußerlichen Kundgebung über Gottes Gesetz. Sie besaßen den Sinn für Recht und Unrecht in ihrem Geiste in einer so vollkommenen Weise, daß sie Recht und Unrecht intuitiv oder aus eigenem Vermögen unterscheiden konnten. Als sie aber durch die Sünde fielen, verloren sie dieses Gleichgewicht des Verstandes.

Wenn wir die Zeit unserer Stammeltern mit der unseren vergleichen, so erkennen wir, daß dieser scharfe Sinn für Recht und Unrecht stumpf geworden ist. So empfinden es zum Beispiel menschenfressende Volksstämme als rechtens, ihre Feinde aufzufressen. Sie denken, daß sie dadurch ebenfalls stark werden, wenn sie Feinde essen, die stark sind. Diese äußerste Rücksichtslosigkeit gegen die Rechte anderer ist der Geist der Selbstsucht. Wir nehmen diesen Geist auch in zivilisierten Ländern wahr, wo der Feind nicht buchstäblich gefressen wird, jedoch sein Vermögen und sein guter Ruf verschlungen wird.

Unser Herr bemerkte, daß die Pharisäer sehr darauf bedacht waren, den vollen Zehnten von Krausemünze, Anis und Kümmel zu geben. Doch die wichtigeren Punkte des Gesetzes hatten sie übersehen: Gericht, Barmherzigkeit und Glauben. Er zeigte, daß das Gesetz, welches sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”, wichtiger ist, als das Geben des Zehnten. Er sagte auch, daß die Pharisäer auf Erpressungen und Ausschweifungen bedacht seien, und daß sie eine Mücke seihen und ein Kamel verschlucken; daß sie der Witwen Häuser verschlingen. (Matthäus 23:23 - 25 und Markus 12:40)

Unser Herr meinte damit, daß, wenn eine Witwe allein blieb, und niemanden hatte, der ihre Interessen wahrnahm, einige dieser religiösen Bekenner ihr Eigentum in Besitz nahmen, wenn sie es konnten. So gibt es auch in unserer Zeit Menschen, die sich bemühen herauszufinden, wie sie ihren Nächsten schädigen können. Sie fressen nicht buchstäblich ihren Nächsten, jedoch verschlingen sie seinen Unterhalt und sein Eigentum. Diese Leute sind geistige Menschenfresser.

Charakteristische Merkmale eines gesunden Verstandes

In dem Maße, in dem wir den Geist der Liebe empfangen, erlangen wir den Geist des gesunden Verstandes. Dieser Geist bewirkt in uns, daß wir in allen Angelegenheiten des Lebens erkennen, was recht und was unrecht ist. Wir haben nicht nur den Geist des Gesetzes, sondern wir haben außerdem den Geist des Herrn, der uns unterweist. Das Gesetz sagt: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.” Der Geist des Gesetzes sagt, daß wir nicht zulassen sollen, daß Reichtum oder andere Dinge unseren Geist vom Herrn abwenden. Wir sehen heute, daß Menschen Aktien und Kapital anbeten und ihre beste Zeit dem Dienst des Mammons widmen. Sie wissen nicht, was sie tun.

Zum besseren Verständnis soll folgende Veranschaulichung dienen: Kinder Gottes kamen mit der guten Botschaft der Wahrheit in das Haus eines Mannes, der eine Mistharke in seiner Hand hielt. Er zog Stroh, kleine Stöcke und Staub vom Boden zu sich heran. Über seinem Haupte befand sich jemand mit einer himmlischen Krone in seiner Hand. Diese Krone wurde dem Manne im Tausch gegen die Mistharke angeboten. Aber der Mann schaute nicht auf, noch beachtete er, was gesagt wurde.

Wir sehen heute viele Menschen, die Mistharken gebrauchen und alles Spielzeug des Lebens sammeln. Schließlich wissen sie nicht, was sie damit anfangen sollen, wenn sie es angehäuft haben. Wenn diese Menschen sterben, so werden diese Dinge vielleicht denen schaden, welchen sie hinterlassen sind. Die Kinder Gottes aus unserer Veranschaulichung hatten einen gesunden Verstand. Der Mann, der Stöcke und Stroh und Staub zusammenharkte, hatte jedoch keinen gesunden Verstand. Mehr oder weniger sehen wir rings um uns herum den Geist eines ungesunden Sinnes, der die wirklich wertvollen Dinge übersieht und Kleinigkeiten zusammenrafft.

Wenn wir den Geist eines gesunden Sinnes entwickeln, so lernen wir zu erkennen, was wertvoll ist. Andere Dinge betrachten wir als unbedeutend. Zunehmend begehren wir die himmlischen Dinge. Aber die Welt denkt: „Sieh diesen Staub! Ist das nicht feines Stroh?” Sie sagt: „Nimm einige von diesen Stöcken und wurmstichigen Früchten, die wir hier haben.” Aber alles, wonach sie strebt, ist Täuschung.

Sie behauptet über uns, daß wir einen ungesunden Sinn haben, weil wir nach den besseren Dingen, den himmlischen Dingen, streben. So sagte sie über Jesu: „Er hat einen Dämon und ist von Sinnen.” (Johannes 10:20) Wie der Apostel sagte: ”Sei es daß wir außer uns sind, so sind wir es Gott.” (2. Korinther 5:13) Andere befremdet es, daß wir nicht zu demselben Treiben der Ausschweifung mitlaufen. (1. Petrus 4:4) Und es bewahrheitet sich heute, daß derjenige, der gottselig leben will, mißverstanden und verleumdet wird. (2. Timotheus 3:12) Aber es ist an uns, unseren Mut, unseren Glauben und unsere Treue für den Herrn zu zeigen und seinen „Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit” zu offenbaren. (2. Timotheus 1:7) Die Bekundung seines Geistes wird denen, welche sein sind, helfen, „mehr als Überwinder” zu werden. (Römer 8:37) Der Welt können wir nicht helfen. Wir erbauen uns jedoch in unserem allerheiligsten Glauben. (Judas 20 und 21)

Der Geist eines gesunden Verstandes offenbart sich durch den Heiligen Geist wunderbar im Volk des Herrn. Er bringt ihm im Vergleich mit der übrigen Menschheit viele Vorteile. Er zeigt ihm in dem gegenwärtigen Leben Gelegenheiten zur Erlangung eines festen Charakters. Er erweitert und vertieft seinen Geist in alle guten Richtungen. Er macht es weniger empfindlich in bezug auf seine eigenen Rechte, Privilegien und Wünsche, und rücksichtsvoller gegen die Rechte und Gefühle anderer.

Der Geist eines gesunden Verstandes macht unser Urteil klarer, wahrer und vertrauenswürdiger. Er treibt uns an, die Unterweisungen des Wortes Gottes in bezug auf das, was wir tun und was wir lassen sollten, was wir annehmen, und was wir als unser eigenes, mangelhaftes Urteil verwerfen sollten. Die Sanftmütigen wird er recht führen. Was auch die Unvollkommenheiten des Geistes und Leibes sein mögen, die vom Fall herrühren, diejenigen, welche den Geist eines gesunden Sinnes empfangen, werden dadurch reiner, freundlicher, milder, weniger selbstsüchtig und rücksichtsvoller gegen andere werden. Diejenigen, welche so recht geleitet werden, werden den Geist der Liebe zunehmend entwickeln, bis das, was vollkommen ist, gekommen sein wird, und das, was nur Stückwerk ist, hinweggetan sein wird. (1. Korinther 13:10)

WT vom Dezember 1912



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung