„Meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht”

2. Korinther 12:9

Für das, was Jesus von uns erwartet, benötigen wir weder Gesundheit noch Kraft noch andere Gaben als nur die, die wir mit auf die Welt gebracht haben. Wir benötigen keine andere Erziehung und Bildung, als die, die wir besitzen. Denn die Früchte, die wir hervorbringen sollen, sind nicht von uns selbst abhängig, sondern von der Gnade des Herrn, das heißt davon, ob er uns als Werkzeuge gebrauchen will, oder nicht. Die besten Fähigkeiten, die edelsten persönlichen Vorzüge nützen im Werk des Herrn gar nichts, wenn er keinen Gebrauch davon machen will, wenn seine Gnade, sein Mitgehen und Mitwirken fehlen. „Darum” - sagt Paulus - „will ich am allerliebsten mich meiner Schwachheit rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Verfolgungen, an Ängsten für Christum; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.” (2. Korinther 19:9 - 10)

Je größer meine Demut und je geringer meine Selbstzufriedenheit sind, desto besser kann Christus durch mich wirken. Das bedeutet, daß jede Selbstzufriedenheit, jedes Stützen auf die eigene Kraft, jede vermeintliche Sicherheit dem Herrn ein Hindernis sind oder sein könnten. Das heißt nicht, daß Untätigkeit und Unfähigkeit für Paulus eine Voraussetzung für sein Apostelamt sind. Das wäre ein Irrtum; nein, Paulus benötigt Begabung und Talente. Diese aber stehen vielen augenscheinlichen Schwachheiten, Gesundheitsmängeln und Hemmungen jeglicher Art sowie äußeren Nachteilen wie Verunglimpfungen und Verfolgungen gegenüber. Sie alle erlauben dem Apostel keine äußere Sicherheit, keinen Hochmut und kein Vertrauen auf die eigene Kraft. Auf den ersten Blick erwecken sie auch nicht den Eindruck einer selbstbewußten und selbstsicheren Persönlichkeit. Es entsteht eher der Eindruck eines niedergedrückten, gebrechlichen Menschen, der ohne jeden äußeren Glanz ist. Paulus machte auf die meisten Brüder keinen besonderen Eindruck. Er sagte einmal: „Als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit. … Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur Jesum Christum, und ihn als gekreuzigt. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern und meine Rede war nicht in überredenden Worten - sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft.” (1. Korinther 2:1 und 4)

Welch außergewöhnliche Rede! Der Hörer mag die übliche Redegewandtheit, etwas Mit-reißendes und Berauschendes vermißt haben, das Bloßstellen des Gegners mit viel Spott und Hohn. Paulus sprach besonnen und manchmal sich besinnend. Für die meisten Menschen ist diese Sprache etwas trocken und schwer verständlich. Sogar ein Petrus bemerkt, daß manches in den Briefen des Paulus schwer zu verstehen ist - und daß vieles falsch verstanden und verdreht wird, weil es auch nicht einfach und oberflächlich ist. (2. Petrus 3:16) Einen Paulusbrief liest man weder zur Unterhaltung noch zum Zeitvertreib. Es ist harte Kost. Und wie viele lesen sie? Wieviele Christen? Wieviele Gläubige? Lesen wir sie?

Aber Paulus darf sagen: meine Rede bestand nicht einfach in überredenden Worten, sondern in „Erweisung des Geistes und der Kraft” - das heißt ich rede, um zu zeigen, daß der Wahrheit eine innere Logik zugrunde liegt und daß davon Überzeugungskraft ausgeht, wenn auch kein Strohfeuer der Erregung. Ich rede so, daß Fragen aufgeworfen werden, an die manche gar nicht gedacht haben - und daß Fragen beantwortet werden, endgültig, beruhigend, Sicherheit gebend. Ich suche nicht nur mit Scheingründen eine Antwort zu erteilen, sondern, als von Gott erleuchtet, eine volle Befriedigung in dem Wahrheitshungrigen zu erzeugen.

Was ich predige, ist einfach: „Jesum Christum und diesen als gekreuzigt.” Was heißt das? Es bedeutet: ich predige kein vorgefertigtes Glaubensbekenntnis, keine ausgeklügelte Philosophie, sondern ich berichte Euch eine geschichtliche Tatsache, die aber unendlich viel zu denken gibt und Licht auf große Geheimnisse Gottes und auf die Rätsel des Menschenlebens wirft! Jesus ist der Messias, der König aus dem Hause David; er ist der von Gott verheißene Prophet, größer als Moses, auf den dann jeder zu seiner Errettung unbedingt hören muß. Und dieser Messias ist von den Juden gekreuzigt worden. Genau auf diesem Wege sollte das wahre Heil, die Errettung, zu Israel und aller Welt kommen. In diesem unfaßbaren Unheil lag nun Gottes Weg der Errettung; in der allerschwersten Sünde war der Grund des Endes der Sünde gelegt!

Das Volk Gottes, das durch Gottes Gesetz geführte, durch Gottes Propheten gescholtene, aufgeklärte und zurechtgewiesene Volk Israel - es hat sich am gesandten Erretter schuldig gemacht! Es hat die Nutzlosigkeit des Gesetzes zur Überwindung der Sünde mit der Kreuzigung Jesu offenbar gemacht. Es hat damit ein für allemal gezeigt, daß durch Gesetzeswerke das Heil nicht zu erlangen ist. Was ergibt sich daraus? Der Mensch ist auf die Gnade Gottes angewiesen - auf unverdiente Errettung.

Wodurch könnte diese Tatsache deutlicher werden als durch Gottes Zulassung der Kreuzigung Seines geliebten Sohnes zur Tilgung der menschlichen Sündenschuld? So redet Gott. Das ist die Sprache des Geistes. Er zwingt zum Nachdenken. Wenn der Mensch mit seiner Logik am Ende ist, dann beginnt die Logik Gottes. Gott macht keine endlosen Worte - er schreibt keine Bücher. Er spricht durch ungewöhnliche Taten und Ereignisse. Diese sprechen dann fortwährend zu uns und lassen uns nicht mehr los. Das ist die Predigt des Paulus: Jesus der Messias - der Messias gekreuzigt - der Gekreuzigte auferstanden - der Auferstandene wird von einer Schar unentwegter Zeugen als Erlöser der Welt verkündet! - Paulus, einst Verfolger und Mörder dieser Zeugen - bis eine Stimme vom Himmel ihm Einhalt gebietet: „So kann es nicht weitergehen! Was verfolgst du mich, den Messias, auf den du als Israelit hoffst als auf das Heil Israels und der Welt? Kehre um!”

Das ist das Erlebnis des Paulus. Er lief in die Finsternis hinein, und es wurde finster und finsterer um ihn - zuletzt sah er überhaupt nichts mehr. Er mußte umkehren … und nun wurde es licht und lichter, und schließlich kam eine überwältigende Lichtfülle über ihn, überirdisches Licht, so daß er nicht mehr wußte, ob er noch auf Erden sei. Alle Fragen sind beantwortet! Er hat es nicht mehr nötig, zu denken; es denkt in ihm: die Wahrheit ist so übermächtig vor seinen Augen - er wird nie mehr nötig haben, etwas zu lesen: die ganze Schrift steht ihm zur Verfügung. Ihm fallen alle Worte ein und alles ist harmonisch und verständlich. Alles ist Wahrheit: Jesus, der Sohn Gottes, von Gott in die Welt gesandt als Mensch, getötet nach dem Fleische, auferweckt nach dem Geiste, erhöht zur Rechten Gottes, Mittler des Neuen Bundes durch sein vergossenes Blut, das die Sünde wegnimmt. - Das kann man Jahr für Jahr predigen, denn die Wahrheit ist ein unerschöpfliches und unergründliches Thema.

Was ist Paulus? Nichts! Jesus hat ihn erst recht zu nichts gemacht. Vorher war er ein Pharisäer. Er war brauchbares Werkzeug der Gegner der Wahrheit! Wer sind die Gegner der Wahrheit? Es ist die Welt! Sie will so weiterbestehen, wie sie ist. Dies kann jedoch nur als Gegner der Wahrheit geschehen. Die Welt täuscht sich, wenn sie meint, eine gemäßigte Anerkennung der Wahrheit, eine gut dosierte Mischung zwischen dem Dienst für Jahwe und dem Baalsdienst, sei das Sicherste und Gesundeste. Dies garantiere am besten den Fortbestand unserer Kultur und unser Wohlergehen.

Das ist die Welt und die Weisheit dieser Welt. Die Propheten Gottes haben unermüdlich gegen diese Halbwahrheit gekämpft. „Was hinket ihr auf beiden Seiten? Wenn Jahwe Gott ist, so wandelt ihm nach; wenn aber der Baal, so haltet euch an den Baal.” (1. Könige 18:21) Jesus sagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.” (Johannes 18:36) Paulus sagt: „Seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, daß ihr prüfen möget, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.” (Römer 12:2). Jakobus 4:4: „Wisset ihr nicht, daß die Freundschaft der Welt Feindschaft wider Gott ist? Wer nun irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich als einen Feind Gottes dar.”

Wir erkennen die Eindeutigkeit der Wahrheit. Sie trennt zwischen Kirche und Welt! Und weil allezeit die Welt auch in die Kirche hineindringt, so trennt sie auch zwischen Kirche und Weltkirche - oder besser: zwischen Tempel und Vorhof. (Offenbarung 11) Wir dürfen den Vorhof nicht vom Tempel abtrennen. Auch er hat seine Bedeutung und Heiligkeit - er stellt eine notwendige Vorstufe zum Tempelzustand dar. Man muß durch ihn hindurch, um in den Tempel zu gelangen, aber vom Tempel aus kehrt man nicht in den Vorhof zurück. Dieser Weg zurück führt in seiner Konsequenz geradewegs in die Welt. Im Vorhof ist man nicht zum Bleiben, sondern nur zum Hindurchgehen, so wie man sich im Hausflur nicht häuslich niederlassen würde.

Wir haben von den Gegnern der Wahrheit gesprochen. Es ist die Welt schlechthin. Es sind die, welche etwas darstellen. Alle in der Welt wollen etwas darstellen. Sie wünschen sich den Fortbestand der Welt, weil sie hier etwas darstellen und leben wollen. Sie streben nicht unbedingt nach dem Reich Gottes, auch als Fromme nicht, weil sie im Reich Gottes nichts Besonderes mehr sind. Dort stellt nur Gott etwas dar. Und wenn Gott Dienstkräfte benötigt, so will Er nur die Demütigen. Durch Jesus Christus hat Gott uns allen unsere Nichtigkeit vor Augen geführt. Jesus sagt: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich. Ich bin die Tür. Es sei denn, daß ihr das Fleisch des Sohnes des Menschen esset und sein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch selbst.” (Johannes 6:53)

So macht Jesus uns alle von der Gnade Gottes in Christo abhängig. Wer zum Vater kommen will, muß anerkennen, daß er ein Nichts ist. Alles fällt ihm nur aus Gnade zu, nichts aus Verdienst. Die Gnade ist dem verhaßt, der etwas darstellt und es auch will. Ich bin Manns genug, mich selbständig zu ernähren; was soll ich da um Gnadenbrot betteln? Was brauche ich Gnade, wenn ich in den Wegen des Rechts bleibe? Ich verstehe meinen Wagen zu steuern und bleibe dem Polizeipersonal am liebsten vom Leibe. Ich soll betteln? Ich soll knien? Ich soll mich für irgend etwas entschuldigen? Unsympathische Worte! So denkt, so fühlt, so ist der Wille des Weltmenschen! Man ist einwandfrei - das genügt!

Für solche ist Christus nicht gestorben. Noch nicht! Denn es kommt der Tag, da die ganze Welt erkennen wird, daß sie nicht rein genug ist. Dann wird es geschehen, daß sich plötzlich ganzer Völker schuldig machen und dies offenbar wird. Dabei tragen die Obersten und Vornehmsten die größte Schuld - sie haben sich mit himmelschreiender Blutschuld beschmutzt. Und selbst die Schuld der Kleinsten im Volke ist dann so groß, das sie es selbst erkennen und auch keine scheinbare Rechtfertigung mehr dafür besitzen, Steine und Anklagen auf ihre Oberen zu werfen. Es kommt die Stunde, da „Fromme” und Nichtgläubige froh sein werden, daß jemand für ihre Sünde gestorben ist, daß die Sündenvergebung existiert, und daß es eine Gnade gibt. Es kommt die Stunde, da die Welt feststellen wird, daß sie im Morast wandelt; daß man in Morast umkommt, es sein denn man begibt sich noch tiefer hinein. Es kommt die Stunde, da nicht die Leiden, Entbehrungen, Hunger und Durst, Schmerz und Krankheit die Menschen am tiefsten schmerzen werden, sondern das Leid über die Sünde, der Schmerz über die Unwahrheit des eigenen Lebens, die Reue über die Lieblosigkeit des eigenen Lebens und die Reue über die Geringschätzung der Gnade. Nicht der Mangel an Kraft, Gesundheit und Vermögen, sondern der Mangel an göttlicher Gnade wird erdrückend sein.

An diesem Tage wird allen Menschen bewußt werden, daß sie nackt sind. Sie werden nach etwas suchen, um sich damit zu bedecken. Nachdem die ersten Menschen gesündigt hatten, erkannten sie, daß sie nackt waren - sie schämten sich, und sie machten sich Schürzen aus Feigenblättern, um sich damit zu bedecken. Sie durften sich nicht mehr zeigen, wie sie waren. Was nützten ihnen die Schürzen? Diese Schürzen offenbarten erst recht ihren Mangel. Sie sind Symbole für ihr schlechtes Gewissen. Auch unsere Kleider sind das. Wie die Feigenblätter nicht haltbar waren, sondern immer wieder geflickt werden mußten, so ist es auch mit unseren Kleidern. Auch diese verwandeln sich in Lumpen, und - geistig gesprochen - geht der Mensch mindestens immer zerlumpt herum. Er hat nie ein ganz sauberes Gewissen, auch in den besten Kleidern nicht.

Er trachtet danach, eine dauerhafte Be-deckung zu erlangen. Am meisten fühlen sich Vagabunden und Bettler dazu gedrängt, und darum greifen diese am liebsten nach dem widerstandsfähigen, dauerhaften Gewand, das ihnen mit dem Kleid der Gerechtigkeit Jesu Christi angeboten wird. Und wenn sie es anziehen, so erhalten sie auch gleich einen neuen Namen damit. Welchen? „In jenen Tagen wird Juda gerettet und Jerusalem in Sicherheit wohnen; und dies wird der Name sein, mit welchem man es benennen wird: Jahwe, unsere Gerechtigkeit.” (Jeremia 33:16) Sein Gott wird ihm zur Gerechtigkeit sein; sein gnädiger Gott hat ihm ein neues Kleid der Gerechtigkeit im Erlöser Jesus Christus beschafft. Er hat ihm in Christo auch eine neue Erkenntnis des Guten und des Bösen geschenkt. Mit Christi Gerechtigkeit bekleidet, ist der Mensch nicht mehr nackt.

Der Begnadigte

Durch die Gnade Gottes wurde der Mensch zu einem Nichts gemacht. Er wurde zu einem Wesen, das durch die Gnade lebt - nicht durch Leistungen oder Verdienste. Das heißt, daß er selbst weder Leistungen noch Verdienste bringt, denn sonst wäre er nicht auf Gnade angewiesen. Aber diese Entblößung schadet dem Begnadeten nicht. Zudem, was jetzt von ihm gefordert wird, ist er stets fähig. Ja, er kann es ohne eigenes Leistungsvermögen und Verdienste sogar besser erbringen. Seine Aufgaben bestehen nun zum großen Teil darin, Gott wirken zu lassen, seinerseits zu dulden, zu ertragen, zu leiden, zu glauben, zu hoffen, zu lieben und auf die Hilfe des Herrn zu warten. Wenn er reden soll, soll er sich die Rede vom Herrn geben lassen; und wenn er denken soll, sich die Gedanken vom Geist des Herrn schenken lassen. Gott gegenüber kommt es nicht auf Leistung nach Pferdestärken oder sonstigen Energieeinheiten an. Hier sind die richtigen Entscheidungen maßgebend - ob sie dem Geist Christi entsprechend sind oder nicht. Die tatsächliche Leistung liegt nur in dem Maß in unserer Verantwortung, als uns dazu die Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

Es entspricht dem Willen Gottes, daß die Israeliten den Tempel erhalten und an ihm arbeiten, daß sie für die Sache Gottes Opferbereitschaft zeigen. Aber das Opfer wird nicht nach seiner materiellen Größe bewertet. Daß eine arme Witwe, die selbst kaum genug zu leben hat, doch einen Teil ihres Besitzes für die Sache Gottes erübrigt, ist das Entscheidende. Auch als Armer darf man etwas für Gott aufopfern. Es ist viel weniger rühmlich, wenn ein Reicher dies tut.

Der Arme hat die schönsten Möglichkeiten zum Opfern für die Sache Gottes, denn Armut gehört zu der Schwachheit, die stark macht. Armut ist eine Voraussetzung für innere Freiheit, die Paulus in den Worten bekundet: „Ich weiß sowohl Überfluß zu haben als erniedrigt zu sein … sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluß zu haben als Mangel zu leiden. Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt.” (Philipper 4:12 und 13)

Viele gläubige Christen früherer Zeiten haben daher in der Armut und äußersten Entbehrung einen sicheren Weg zum Himmel gesehen, zum ewigen Heil. Sie sahen darin eine Möglichkeit, die Heiligkeit und Erwählung zu erstreiten. Sie haben als Bettelmönche freiwillige Armut erwählt. Nach dem Worte des Paulus hätten sie eigentlich auch absichtliche Krankheit und Körperschwäche wählen müssen: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.” Paulus sagt jedoch noch etwas anderes: „Ich vermag beides: Überfluß zu haben als erniedrigt zu sein.”

Es kommt nicht auf Gesundheit oder Krankheit an, sondern auf die Freiheit des Geistes, auf Gottvertrauen auch unter schwierigen Bedingungen. Es würde zu größter innerer Unfreiheit und zu einem nicht endenden Widerspruch gegenüber der menschlichen Natur führen, wenn ein Christ in Angst davor leben muß, aus der Gnade gefallen zu sein, wenn es ihm auch äußerlich gut oder erträglich ergeht. Solch ein Widerspruch ist das Gegenteil von Freiheit! Vielmehr liegt die Freiheit in jenem Vertrauen auf Gott, den Vater, und unseren Herrn, welches sagt: „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken - denen, die nach Vorsatz berufen sind.” Hierdurch wird das Höchste der christlichen Freiheit zum Ausdruck gebracht.

Wenn wir diesem Wort wirklich glauben, dann besitzen wir schon jetzt die göttliche Freiheit, die unser Herr gewonnen hatte, als er vor dem Kreuze stand und sagte: „Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.”

Alles - Alle Umstände unseres Lebens sind gut. Ich weiß Überfluß zu haben und Mangel zu leiden - in der Welt, aber nicht von der Welt. Uns in der Welt geistig unbefleckt zu erhalten, das haben wir zu lernen. Wir sollen nicht aus der Welt ins Kloster fliehen. Der Christ muß in die Welt - er muß Weltkenntnis besitzen - und in dieser Welt muß er Licht sein.

Von Herrlichkeit zu Herrlichkeit - 2. Korinther 3:18

Das beständige Trachten und das Ziel eines jeden Kindes Gottes sollte eine völlige Umgestaltung in das Bild und Wesen unseres Himmlischen Vaters sein. Es reicht nicht aus, daß man sich Kenntnis von Gottes Ratschlüssen bezüglich der unwürdigen Menschheit und Erfahrungen Seiner Güte und Barmherzigkeit aneignet, oder daß man anderen das Evangelium verkündigt. Es ist nicht genug, daß wir eifrig danach streben, andere durch die Botschaft von der großen Freude, die allem Volke widerfahren soll, zu segnen. All das und noch mehr können wir tun; trotzdem nutzt es uns nur wenig, wenn wir unsere Herzen, unsere Gedanken und unsere guten Werke nicht von der Gnade und Liebe unseres Himmlischen Vaters durchdringen lassen.

Unser Hauptinteresse bei der Erforschung des Wortes Gottes und Seines Wesens sollte allezeit darin bestehen, unser Innerstes in engere Verbindung und größere Ähnlichkeit mit Ihm zu bringen, damit der Herr uns zu Seinen Mitarbeitern machen kann. „Dies ist Gottes Wille: Eure Heiligkeit”, sagt der Apostel (1. Thessalonicher 4:3) - nämlich unsere völlige Absonderung und Hingabe an den Herrn mit ganzer Seele, weil er selbst das Werk unserer Umwandlung in Sein herrliches Ebenbild bis zu Ende führen will, durch das Wirken Seines Geistes im Wort. So bereitet Er uns für die uneremßlichen Gnadenerweisungen während der zukünftigen Zeitalter zu. Aus den vorangegangenen Worten des Apostels erkennen wir deutlich, daß das Versprechen der ganzen Gemeinde des Herrn gegeben wurde - wir alle werden verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Daraus schließen wir, daß alle, die nicht verwandelt werden, nicht zu der hier angesprochenen Klasse gehören. Dies ist ein äußerst ernster Gedanke, welcher alle Gottgeweihten von Herzen bewegen sollte. Es geht nicht darum, uns dem Herrn voll und ganz zu übergeben, sondern, ob wir uns nach erfolgter Übergabe allein den umgestaltenden Wirkungen des Geistes Gottes überlassen, damit wir täglich mehr in das glorreiche Bild unseres Gottes verwandelt werden.

Wie der Apostel damals wenden wir uns heute an alle wahrhaft Gottgeweihten und können sagen: Wir alle werden durch den Geist Gottes, welcher umgestaltet und Neues wirkt, verwandelt von einer Herrlichkeit zur anderen. Der Herr sei gelobt! Einer fühlt es bei dem anderen und freut sich darüber. Gestern traf der Hammer aus der göttlichen Werkstatt jenes Glied des Leibes Christi mit einem kräftigem Schlag. Ein unschöner Auswuchs von Hochmut fiel von ihm ab, und heute ist seine Gestalt viel schöner geworden. Er hatte sich gegen den Schlag nicht gesträubt, denn er wußte, daß er ihn benötigte. Vorgestern sah man einen anderen in einer schmerzvollen Läuterung geduldig ausharren, und wie hell glänzt er heute! Tagtäglich beobachtet einer beim anderen, wie er das göttliche Modell betrachtet und sich bemüht, es nachzubilden. Seine Veränderung fällt durch sein sanftes, stilles, wohltuendes Wesen auf. So arbeitet der Geist Gottes in allen, die sich Seinem Willen voll und ganz überlassen.

Gottes Hammer, Meißel und Feile sind absolut notwendige Werkzeuge im Umgestaltungswerk. Durch sie kommt man von alten, hartnäckigen Gebrechen des Fleisches los, die den sanfteren Einflüssen des Heiligen Geistes nicht so leicht weichen würden. Der Apostel weist auf ein ganz besonders verordnetes Mittel zur Umwandlung hin - nämlich, ein genaues und beständiges Betrachten der Herrlichkeit Gottes, wie sie sich in Seinem Worte und in Seinem Heiligen Gesandten, Jesus Christus, offenbart: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit Gottes anschauend wie in einem Spiegel, werden in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit.”

„Mit aufgedecktem Angesicht” bedeutet, ohne einen störenden Schleier von Vorurteilen, Furcht, Förmlichkeit usw., nur mit Einfältigkeit des Herzens. So schauen wir die Herrlichkeit Gottes (Sein glorreiches, lichtvolles Wesen), nicht in einer Vision, sondern wie in einem Spiegel, der der Widerschein Seiner göttlichen Eigenschaften ist, nämlich das lebendige Wort, Jesus Christus. Zur Unterstützung einer solchen Betrachtung ist uns die wertvolle Führung des Geistes versprochen, der uns in alle Wahrheit leitet und uns die zukünftigen Dinge zeigt.

Dieser Blick in den Spiegel gibt uns einen wunderbaren Begriff von Gottes Gerechtigkeit. Wir erkennen sie deutlich als die Grundfeste des Thrones Gottes (Psalm 97:2) und als das Fundament aller gegenwärtign und zukünftigen Sicherheit. Könnte man Gottes Gerechtigkeit nicht erkennen, so hätte man keinen Beweis der Erfüllung Seiner Gnadenabsichten, denn man könnte immer befürchten, Gott könne Seine Entscheidung später ändern. Jetzt aber weiß man, daß der Herr Sich nicht verändert. Was Er gesagt hat, das tut Er gewiß. Seine Gerechtigkeit ist unerschütterlich, wenn Er über die sündige Menschheit zu Gericht sitzt. Eine Generation nach der anderen hat es seit mehr als sechzig Jahrhunderten bezeugt. Keine Gewalt im Himmel und auf Erden konnte Seinen Urteilsspruch umstoßen, bis Jesus Christus durch Seinen Opfertod den Anforderungen der Gerechtigkeit genüge tat. Die Gerechtigkeit, so heißt es in der Schrift, muß ewig bestehen. Wir erkennen in ihr aber nicht lediglich unsere gerechte Verurteilung als sündige Menschen, sondern auch unsere völlige, wunderbare Erlösung, weil „Gott gerecht ist und uns die Sünden vergibt.” (1. Johannes 1:9) durch das teure Blut Christi, der uns vom Fluch des Todes losgekauft hat.

Wenn wir Gottes Gerechtigkeit so erkannt haben und verstehen, wie Er in all Seinem Handeln treu und unveränderlich bei Seinen Geschöpfen diesen Zug Seines Wesens anwendet, dann werden wir auch eines begreifen: Wir müssen im täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen von demselben Gerechtigkeitsgefühl durchdrungen sein. Schritt für Schritt lernen wir bei all unserem Handeln und Denken, genau in den Grenzen der Gerechtigkeit zu bleiben - und wir vergessen nicht, daß diese Eigenschaft die Grundlage unseres gesamten Wandels bilden muß. Mit anderen Worten: zuerst lernen wir, gerecht zu sein, damit wir dann auch weitherzig werden können. Das Gerechtigkeitsgefühl sollte bei jedem Christen eine herausragende Charaktereigenschaft sein. Betrachten wir nun die Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Sogar das Todesurteil für die gefallene Menschheit war Barmherzigkeit. Es kann folgendermaßen erklärt werden: Seht, aus lauter Freundlichkeit und Güte habe ich euch das Leben mit all seinen Genüssen geschenkt. Ich gab es euch unter der Bedingung, daß ihr richtigen Gebrauch davon macht, zur immerwährenden Freude. Da ihr aber meine Güte mißbraucht habt, so nehme ich es wieder von euch, und ihr werdet wieder zu dem Staub, aus dem ihr genommen wurdet.

Einem Menschen, der sich gedanklich damit nicht auseinandersetzt, wird Gottes Barmherzigkeit in dem Sterben und Geborenwerden eines dahinsterbenden, sündigen Geschlechts nicht offenbar. Aber wer erst Seine Gnadenabsichten erkannt hat, erkennt auch in alledem kein Gebot eines harten Tyrannen, sondern eine Weisheit voller Barmherzigkeit. Sie ist schon leise in der Verheißung angedeutet, nach der der Weibessame zur bestimmten Zeit das Böse niederwerfen - das heißt, der Schlange den Kopf zertreten wird. Er erkennt darin schon die Errettung der gesamten, in Sünde geborenen Menschheit durch die Wiedergeburt zu neuem Leben und wunderbaren Segnungen all derer, die dies annehmen wollen. In dieser Barmherzigkeit mit ihren vielfältigen Äußerungen erblicken wir den Beweis für die Tatsache, daß „Gott Liebe ist”. Auf diese Weise lernen wir, liebevoll und barmherzig gegen Dankbare und gegen Undankbare zu sein.

Auch erkennen wir im Wesen Gottes Seine väterliche Fürsorge für alle Seine Geschöpfe. Er kleidet und ernährt die Sperlinge und schmückt die Lilien auf dem Felde mit all ihrer Pracht. Daraus ergeben sich für uns allerlei wichtige Lehren: Gott wacht gnädig und freundlich über alle, Er erhält und bewahrt sie. Betrachten wir unter moralischen und geistigen Gesichtspunkten die Eigenschaften Gottes, die Seine Herrlichkeit ausmachen, so entdecken wir in dem Spiegel der Heiligen Schrift das zu unserer Nachahmung bestimmte, wunderbare Vorbild. Befassen wir uns eingehend mit in den Dingen, die lieblich und wohllautend, rein und heilig sind, so werden wir im Laufe der Zeit Schritt für Schritt in das göttliche Bild - von Herrlichkeit zu Herrlichkeit verwandelt. Strengen wir uns an, auf das das Werk stetig in uns fortschreitet, bis jede himmlische Tugend das tadellos reine Gewand der uns zugerechneten Gerechtigkeit ziert. Wir empfangen es nur durch den Glauben im Sohne Gottes, dessen Wandel auf Erden ein Abglanz der Herrlichkeit seines Vaters war, so daß er sagen konnte: „Wer mich siehet, siehet den Vater.” Arbeite also eifrig an der Liebe, der Sanftmut, der Geduld und Treue Christi, an der Lauterkeit seines ganzen Wesens und an seinem Sinn der Selbstverleugnung! Nimm diese Eigenschaften tief in dich auf, folge deinem heiligen Vorbild, und laß das Bild Jesu aus dir herausstrahlen!

Der Apostel führt uns in 2. Korinther 4:7 die Tatsache vor Augen, daß sich dieser unserer Schatz eines umgestalteten Wesens zum Beweis dafür, daß die „überschwengliche Kraft von Gott und nicht von uns” ist, in zerbrechlichen, irdischen Gefäßen befindet. Wenn wir nun für diesen heiligenden Einfluß des Geistes Gottes ständig empfänglich sind, so können wir durch unseren Wandel die Tugenden dessen verkünden, der uns berufen hat aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht. (1. Petrus 2:9) Es sollte stets unser Bitten und Streben sein, daß diese armseligen, irdischen Gefäße das Lob unseres großes Gottes immer mehr verkünden! Haltet sie rein an Leib und Seele; laßt keine bösen Gedanken aus eurem Munde hervorgehen! Laßt euer Handeln zu keinem Teil den Söhnen Gottes Unehre machen, damit die lebendigen Tempel des Heiligen Geistes nicht entheiligt werden! Wie mangelhaft unsere guten Werke wegen der uns noch anhaftenden Gebrechen auch ausfallen mögen, halten wir uns wenigstens rein von jener bewußten Regung zum Bösen, dazu möge der Herr seines Segen geben.



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung