„Jahwe ist mein Hirte”

(Psalm 23)

Man darf wohl behaupten, daß keine andere Gedichtsammlung so viel Gutes geschaffen hat wie das Buch der Psalmen. Die darin ausgedrückten Empfindungen spiegeln sich in der Seele in jeder Lage wider, in Freud und Leid. Ein bekannter amerikanischer Prediger und Schriftsteller schrieb im vergangenen Jahrhundert über den 23. Psalm: „Er ist die Nachtigall unter den Psalmen. Er ist zwar klein, trägt schlichtes Gefieder und singt nur scheu aus der Verborgenheit heraus; aber er hat die Luft der ganzen Welt mit melodischer Freude erfüllt”; und ein anderer Bibelkenner sagte: „Dieser Psalm ist der Edelstein der Psalmen, dessen liebliche und reine Strahlen jedes Auge erquicken.”

Nur Gottes Kinder, die in Bundesbeziehung mit Gott stehen, sind in der Lage, diesen Psalm völlig wertzuschätzen und seine gnadenreichen Aussprüche auf sich selbst anzuwenden. Der Psalmist David konnte dies tun, weil er der begünstigten Nation angehörte, mit der Gott am Berge Sinai in Bundesbeziehung getreten war. Die Israeliten waren die Verpflichtung eingegangen, in den Wegen Jahwes zu wandeln und Seinen Geboten gehorsam zu sein. Andererseits war Gott die Verpflichtung eingegangen, sie nach jeder Weise in dem Maße zu segnen, in dem sie ihrem Bund treu blieben. Vollkommener Gehorsam diesem Bunde und Seinem Gesetz gegenüber wäre mit ewigem Leben belohnt worden. Ein solch vollkommener Gehorsam ist jedoch, wie der Apostel bezeugt, unmöglich. „Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor Ihm gerechtfertigt werden.”

Nur verhältnismäßig wenige Israeliten waren so treu, daß sie ihr Möglichstes taten, um den Anforderungen des Gesetzes zu entsprechen: Offenbar war der Prophet David einer von ihnen, obwohl auch er unvollkommen war, denn ihm gab Gott das Zeugnis, daß er „ein Mann nach Seinem Herzen” war. Wenn er sündigte, so bekannte er seine Sünde, unterwarf sich der Strafe und freute sich, wenn Jahwe ihm Seine Gunst wieder zuwandte. Er war bestrebt, in Zukunft seine Gemeinschaft mit Gott sorgfältiger zu hüten. Es ist von Interesse für uns, zu sehen, was den Mann kennzeichnete, an dem Jahwe Wohlgefallen hatte, und welches die Kennzeichen der Schafe sind, denen der große Hirte Sein Interesse zuwendet. Dieser Klasse gehörten natürlich auch andere an, nämlich die Propheten und alle solche, die bestrebt waren, gottselig zu wandeln.

Der große Hirte und seine Herde

Dieser Psalm enthält ein wichtiges Vorbild unseres Herrn Jesus und seiner Kirche. Alle Charakterzüge des Psalms lassen sich sowohl auf unseren Erlöser als auch auf seine Nachfolger, die er als die Schafe seiner Herde bezeichnet, anwenden. Seiner Kirche gegenüber ist er der Vertreter des Vaters in so vollkommenem Maße, daß er zu Recht sagen konnte: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.” Kein menschliches Wesen konnte, wie die Schrift bezeugt, den Himmlischen Vater sehen und leben; und diejenigen, die Jesus sahen und ihn als den Sohn Gottes erkannten, erkannten in ihm den großartigen Widerschein des Himmlischen Vaters. Auch wir alle erkennen Jesus als den Vertreter des Vaters an, den Sohn des Königs, den Sohn des großen Hirten, Jahwes.

Jesus und seine Kirche sind die Schafe der Herde Jahwes in einem tieferen Sinne, als die Israeliten des jüdischen Zeitalters es waren. Die Beziehungen der Juden zu Gott wurden durch Mose aufrecht erhalten, während die Beziehungen der Kirche sich auf Jesus und den besseren Bund, der auf ihm beruht, gründen. Es ist wichtig, daß wir dies klar erkennen, denn wie könnten wir sonst wissen, ob wir die in Psalm 23 enthaltenen, gnadenreichen Ausdrücke auf uns selbst anwenden dürfen? Kein weltlich gesinnter Mensch hätte ein Recht, diesen Psalm auf sich anzuwenden. Er würde sich selbst betrügen, wenn er nicht zu Jahwes Schafen zählt. Nichts ist klarer als dies. Jesus bezeugte, daß es nur einen Weg in die Schafhürde gebe, nämlich, durch die Tür. Und er bezeugte, daß er selbst diese Tür sei.

Wie man ein wahres Schaf wird

Wir stehen von Natur aus als Sünder unter dem Todesurteil Gottes und sind nicht Seine Schafe. Er hat einen großen Vorsatz zugunsten der Menschheit gefaßt, dessen Anfänge Wirklichkeit werden, sobald das messianische Königreich aufgerichtet sein wird. In der Zwischenzeit jedoch, während dieses Evangeliumzeitalters, nimmt Er eine besondere Klasse von Schafen an: Und Jesus weist uns den Weg, auf dem dies geschieht, indem er sagt: „Wenn mir jemand nachkommen will (mein Jünger, mein Nachfolger, mein Schaf sein will), der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir.” Selbstverleugnung ist der erste Schritt; sie ist die Übergabe des eigenen Willens in den Willen Gottes. Der Psalmist scheint auf diesen Bund hinzuweisen, wenn er sagt: „Versammelt mir meine Frommen, die meinen Bund geschlossen haben beim Opfer.” All diejenigen, die Schafe des Herrn sein möchten, müssen diesen Bund über Opfer eingehen, denn er ist die Voraussetzung für die Annahme bei Gott.

Wie sich die Juden nur durch ihren von Gott bestellten Mittler, Mose, Gott nahen konnten, so können wir nur unter dem gegenbildlichen großen Mose, Christus, in diese Schafhürde gelangen. Er ist der Weg, und einen anderen Weg gibt es nicht. Nachdem wir einmal diesen Schritt getan haben und durch die Tür auf dem vorgeschriebenen Weg in die Schafhürde eingetreten sind, gilt uns die Botschaft Gottes, die da lautet: „Alles ist Euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.” Dieser Psalm erklärt uns, was dies beinhaltet. (1. Korinther 3:22 - 23)

„Mir wird nichts mangeln.”

Den Schafen des Herrn, die ihre Beziehungen zum Ihm völlig aufrecht erhalten, wird nichts mangeln, denn Er sorgt für alle ihre Bedürfnisse. Dies bedeutet nicht, daß uns hier irdischer Reichtum oder Berühmtheit oder Luxus zufallen müßte. Die Schafe des Herrn sind Neue Schöpfungen, geistgezeugte Menschen, die während ihres irdischen Lebens wie andere Menschen aus Fleisch und Blut auf der Erde wohnen, die aber in Wahrheit auf ihre Vewandlung warten, die ihnen in der Ersten Auferstehung zuteil werden soll. Jahwe segnete das natürliche Israel mit irdischen Segnungen, indem Er allen seinen irdischen Bedürfnissen entsprach; aber dem geistigen Israel schenkt Er geistige Segnungen. Er wird ihnen nichts Gutes vorenthalten, und sogar Züchtigungen und schmerzliche Erfahrungen mögen zu ihrer geistigen Entwicklung notwendig sein.

Der Psalm sagt uns, daß wir als die Schafe des Herrn keinen Mangel an grüner Weide und den kühlen, erfrischenden Wassern der Wahrheit haben werden. Und während wir so geistig genährt und erfrischt werden, genießen wir den Frieden Gottes, wie es aus den Worten hervorgeht, daß die Schafe auf grüner Aue lagern werden. Aber nicht alle Schafe haben volles Vertrauen zu dem Hirten, und nicht alle haben den festen Entschluß gefaßt, keinen eigenen Willen, sondern nur den Seinen haben zu wollen. Einige geraten von einer Schwierigkeit in die andere, weil sie die grünen Auen und die erfrischenden Wasser der Wahrheit vernachlässigen, die in dem Worte Gottes zu finden sind. Sie irren, gleich eigensinnigen Ziegen, oft in der Wüste umher, fern von dem Hirten. Sie suchen sich mit den unverdaulichen Dingen des gegenwärtigen Lebens zu nähren, von denen eine geistige Natur nicht leben kann.

Aber selbst solche irrenden Schafe verläßt der Hirte nicht, wenn sie wahrlich Sein sind. Wie der Psalm uns zeigt, geht Er ihnen nach. Sein Stecken und Sein Stab trösten sie. Mit dem Stecken verscheucht Er ihre Feinde, die Wölfe, die sie zerreißen wollen. Und mit Seinem Stabe ist Er den verstrickten Schafen behilflich, indem Er sie weise und sorgfältig von den Schwierigkeiten, den Sorgen dieses Lebens, den Bestrickungen und dem Betrug des Reichtums und den Anfechtungen der Sünde und Satans befreit. Daher können viele Schafe der Herde des Herrn sagen: „Er erquicket meine Seele” - Er bringt mir die Wertschätzung und den Genuß Seiner Vorkehrung, die er für mich getroffen hat, wieder zum Bewußtsein, so daß ich erkenne, daß Er weit besser für mich sorgen kann, als ich es selbst könnte.

Eine weitere Erfahrung ist die, daß der Hirte uns führen will. „Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit.” Er läßt mich selbst durch mein eigenes Straucheln und meine selbstgeschaffenen Schwierigkeiten erkennen, wie begehrenswert Seine Wege sind. Er läßt mich die Wege wertschätzen, damit ich ihnen vor allen anderen Wegen den Vorzug gebe. Alle Seine Wege sind vollkommen und gerecht. Er führt uns nicht gegen unseren Willen, sondern in Harmonie mit demselben, damit wir prüfen, was der gute, der wohlgefällige und schließlich der vollkommene Wille Gottes ist. (Römer 12:2)

Das Tal des Todesschattens

Während unseres ganzen Lebens haben wir uns in dem Schatten dieses großen Todestales befunden. Der Stammvater Adam hat als einziger auf den Bergesgipfeln des Lebens gestanden. Er verlor dort seinen Halt und sank allmählich in die Schluchten dieses Tales des Todesschattens hinab. Wir, seine Kinder, sind alle dort geboren worden. Wir sterben täglich; wir leben inmitten von Sterbeszenen. Wir haben aber die Hoffnung, daß unser Herr Jesus seine Schafe auf die Höhe des Lebens zurückführen wird. Er ist jetzt der Führer der Schafe dieses Evangeliumzeitalters, der Kirche, des Leibes Christi. Einst wird er während des Millennium-Königreiches der Führer der Welt sein, denn er sagte: „Ich habe andere Schafe, die nicht aus diesem Hofe sind; auch diese muß ich bringen, … und es wird eine Herde und ein Hirte sein.” (Johannes 10:16)

Das Ende dieses Tales des Todesschattens ist nahe. Dies gilt nicht nicht nur in dem Sinne, daß wir bald am Ende unseres irdischen Lebens angelangt sein werden, sondern besonders in dem Sinne, daß der neue Tag bereits dämmert, von dem der Herr, unser Hirte, bezeugte, daß während desselben „die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen werde mit Heilung in ihren Flügeln.” (Maleachi 4:2) Das Ergebnis wird sein, daß alles Seufzen, aller Schmerz und selbst der Tod aufhören wird - die ganze Welt wird anfangen emporzusteigen aus dem Tale des Todesschattens. Während eines Zeitraums von tausend Jahren wird ein Emporsteigen stattfinden hin zu den glorreichen Höhen menschlicher Vollkommenheit, von denen Adam fiel. Das Recht zu einer Rückkehr dahin ist allen zugesichert worden durch den Tod Jesu, der da starb, „der Gerechte für die Ungerechten.”

Der bessere Tisch der Kirche

Aber dieser kostbare Psalm scheint sich, wie wir bereits erwähnten, besonders auf die Kirche zu beziehen. Daher glauben wir mit Recht, daß das Volk des Herrn der gegenwärtigen Zeit einen besonders zubereiteten Tisch hat, von dem es im Angesicht seiner Feinde genießen kann, denn im kommenden Zeitalter wird es keine schadenbringenden Feinde geben. (Jesaja 11:9) Es ist wunderbar, daß Gottes geweihte Kinder, selbst wenn sie mißverstanden, geschmäht und verfolgt werden, das Vorrecht haben, sich am Tische des Herrn zu laben! Der Tisch stellt die Vorkehrung Gottes für ihre Bedürfnisse sowie Seine Verheißungen und die Zusicherungen Seiner Gunst dar.

Ein anderer Beweis dafür, daß sich der Psalm besonders auf die Kirche dieses Zeitalters bezieht, liegt in den Worten: „Du salbest mein Haupt mit Öl.” Jesus, das Haupt der Kirche, wurde mehr als seine Genossen mit Freudenöl gesalbt. Das heilige Salböl, mit dem die Priester und Könige Israels gesalbt wurden, war ein Sinnbild für den Heiligen Geist. Dieser kam zuerst am Jordan auf Jesus, später zu Pfingsten auch auf die Kirche und schließlich auch auf alle Glieder der Kirche, die da sein Leib ist; so können wir es in Psalm 133:2 lesen.

Ein Kelch, der sowohl lieblich als auch bitter ist

„Mein Becher fließt über.” Das Wort Becher oder Kelch stellt nach der Schrift einen Trunk dar, der einmal lieblich, das andere Mal bitter und manchmal beides zugleich ist. Der Kelch des Herrn bedeutet bittere Erfahrungen und Prüfungen in der Gegegnwart; daher sagte auch Jesus: „Den Kelch, den mir mein Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?” Und dies war der Kelch, sein Kelch, den er seinen Jüngern darbot und den wir, indem wir seine Jünger werden, mit ihm zu teilen bereit sind, und der symbolischerweise durch den Abendmahlskelch dargestellt wird. (1. Korinther 10:15 - 17) An den Leiden Christi sowie an irgendwelchen Opfern in dem Dienste für den Herrn und sein Werk teilzuhaben ist in mehrfachem Sinne des Wortes süß und kostbar. Die Lieblichkeit wird oft von der Bitterkeit abgelöst und umgekehrt, aber der Herr hat uns verheißen, daß der zukünftige Kelch des neuen Weines im Reiche seines Vaters alle Bitterkeit der Jetztzeit mehr als aufwiegen wird. Unser Kelch ist voll, aber wir möchten keinen Tropfen weniger darin wünschen.

„Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens.” Welch kostbarer Gedanke, daß Gottes Güte und Huld allen denen, die wahrlich Sein in Christo sind, Tag um Tag, Stunde um Stunde folgt, und daß Er nach Seiner Verheißung alles zu ihrem Besten ausschlagen läßt! Dann lautet der erhabene Schlußakkord: „Ich werde wohnen im Hause Jahwes auf Länge der Tage” - in dem himmlischen Heim, von dem der Erlöser sagte: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen … ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen.” Dann werden wir, bei seinem zweiten Kommen, durch die glorreiche Verwandlung im vollsten Sinne in des Vaters Haus eintreten, und zwar auf geistiger Daseinsstufe, denn Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben.

Dies wird das ewige Teil der Auserwählten Gottes, der Kirche, sein. Die großen Segnungen, die anschließend der Welt zuteil werden, nämlich irdische Segnungen, werden die Herrlichkeit der Kirche keinesfalls verringern, denn die Kirche wird mit ihrem Herrn der segensreiche Kanal für die irdischen Schafe sein. (Galater 3:29)

WT vom Juni 1915

Amerikanischer WT vom 15.03.1915



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung