Wer ist mein Nächster?

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” - Matthäus 22:39

Unser Herr führte diese Worte an, als er die Summe der zehn Gebote zusammenfaßte. Dadurch, daß er die zehn Gebote in zwei Teile zerlegte, zeigte er, daß sich der eine Teil auf die Pflichten und Verbindlichkeiten Gott gegenüber und der andere Teil auf die Pflichten und Verbindlichkeiten den Mitmenschen, dem Nächsten gegenüber, bezog. Der erste Teil fordert uns auf, den Herrn und Seinen Dienst aus unserem ganzen Herzen und mit unserer ganzen Seele und mit unserer ganzen Kraft und unserem ganzen Verstande zu lieben. Der zweite Teil, der sich auf die Menschen im allgemeinen bezieht, fordert uns dazu auf, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.

Die Juden sahen sich in einem besonderen Sinne als Gottes Volk an. Daher betrachteten sie sich einander unter dem Gesetz als Nächste, denn sie waren alle das Volk Gottes. Aber sie dachten, daß, während sie ihre Nächsten herzlich lieben, sie ihre Feinde hassen sollten, also alle außerhalb stehenden Nationen, die Gott nicht anerkannte. Allerdings bedeutete die Tatsache, daß Gott ihnen vor alters geboten hatte, die sie umwohnenden Nationen zu vertilgen oder zu vertreiben nicht, daß die Juden sie hassen und wünschen sollten, ihnen wirklich Schaden zuzufügen. Unser Herr scheint anzudeuten, daß die Juden die Sache falsch verstanden. Er lehrte einen besseren Weg, nämlich den, die Feinde zu lieben und den Verfolgern Gutes zu tun. Er zeigte ihnen, daß sie ein weites Herz und Wohlwollen allen Menschen gegenüber haben sollten.

Aus diesem Grunde erzählte er ihnen bei einer Gelegenheit das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. In diesem Gleichnis erzählte er von einem Mann, der, obwohl kein Jude, dennoch einem verwundeten Juden half und ihm diente. Ein jüdischer Priester hatte den Verwundeten gesehen und war auf der anderen Straßenseite vorübergegangen. Dann wird ein Levit, der nicht in so naher Beziehung zu Gott stand wie der Priester, beschrieben, der den verwundeten Juden ebenfalls sah und auch auf der anderen Straßenseite vorüberging. Endlich kam dieser Fremdling, ein Samariter, der mit Gott überhaupt nicht in Verbindung stand. Sofort half er dem Verletzten, verband ihm seine Wunden und goß Öl und Wein darauf. Der verwundete Jude war von Räubern überfallen, geplündert und halb totgeschlagen worden. Der Samariter „setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn.” Er blieb über Nacht bei dem Verwundeten, und als er am folgenden Morgen abreiste, gab er dem Wirt einen Geldbetrag und sagte zu ihm: „Trage Sorge für ihn; und was irgend du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.” (Lukas 10:29-35) Jesus wies daraufhin, daß dieses Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeige, wer eigentlich der Nächste ist.

Dieses Gleichnis enthält auch für uns heute eine Lehre. Wenn wir den von unserem Herrn gegebenen Begriff eines wahren Nächsten wertschätzen und ihn uns zu eigen machen möchten, so laßt uns die Goldene Regel wohl beachten: „Alles nun, was immer ihr wollt, das euch die Menschen tun sollen, also tut auch ihr ihnen.” (Matthäus 7:12) Angenommen, wir würden auf der Landstraße von Räubern überfallen, ausgeplündert und geschlagen, uns wünschen, daß jemand uns helfen möchte, so laßt uns dasselbe auch anderen tun, so wie wir Gelegenheit haben. Und so sollte es in allen Dingen sein. Von diesem Standpunkt aus sind alle Menschen Nächste, ganz gleichgültig, wie weit sie voneinander entfernt sind, ob sie auf unserer Seite der Erde oder auf der anderen Seite leben. Diese weitherzige, allgemeine Auffassung stellt unsere Beziehungen und Verpflichtungen zu allen Menschen dar, die für alle die gleichen sind. Alle sind unsere Nächsten. Alle sollten wie Nächste behandelt werden, so wie wir Gelegenheiten haben. Es gibt da keine Ausnahme. Es wäre nicht richtig zu sagen, daß jemand nur denen gegenüber freundlich sein sollte, die zu ihm freundlich gewesen sind, und daß wir nur an solchen als an Nächsten handeln sollten. In diesem Fall würde der Samariter nicht der Nächste gewesen sein. Er hätte denken können, daß, da ihn niemand an der Landstraße getroffen und ihm etwas Gutes erwiesen hatte, er folglich auch nichts Gutes tun muß. Der Herr aber stellt in diesem Gleichnis wie auch in der Auslegung des Geistes des Gesetzes, wie es auf unsere Mitmenschen Bezug hat, einen Grundsatz auf: Wir sollen Nächste sein und einander in freundlicher Nächstenliebe begegnen, denn dies ist das einzig rechte Verhalten der Menschen im Umgang miteinander. Wir sollten unsere Liebe dem Nächsten gegenüber zum Ausdruck bringen, indem wir sein Wohlergehen und seine Interessen aufmerksam im Auge behalten, sie fördern und ihm helfen, so weit es in unserer Macht steht.

Wenn wir nun auf die erwählte Kirche zu sprechen kommen, so besteht unter ihren Gliedern eine besondere Beziehung, ein besonderes Band. Wir sollen einander lieben, gleichwie Jesus uns liebte. Das ist ein neues Gebot. Die Goldene Regel ist kein neues Gebot, denn sie galt schon, als Gott den Menschen schuf. Sie ist dazu bestimmt, die Richtschnur des Lebens zu sein. Das jüdische Gesetz, wie es sich auf das Verhalten der Israeliten untereinander bezog, stellt im wesentlichen die Goldene Regel dar. Doch Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Ein neues Gebot gebe ich euch”, und er meinte dabei, daß diejenigen, die Neue Schöpfungen geworden sind, in einer neuen Beziehung zueinander stehen. Sie gehören einer neuen Familie an, der Familie Gottes.

Unsere Brüder in Christo stehen uns von allen am nächsten. Wer eine Neue Schöpfung in Christo und somit ein Bruder aller derjenigen ist, die auch Neue Schöpfungen sind, soll nicht nur die Goldene Regel beachten. Er soll bereit sein, allen und jedem der Brüder das zu tun, was Jesus tat, nämlich sein Leben für sie niederzulegen. Er soll nicht sagen: „Ich möchte gern mein Leben für ihn niederlegen, erwarte aber, daß er willens ist, sein Leben für mich niederzulegen.” - Nein! - Ohne auf seine eigenen Interessen und sein Leben Rücksicht zu nehmen und ohne auf das zu achten, was andere für ihn tun oder nicht tun, soll er willens sein, sich selbst zum Segen für die Brüder hinzugeben. Er soll opferwillige Liebe haben, die über die Goldene Regel hinaus geht. So werden wir wahre Jünger sein.

amerikanischer WT vom 01.06.1915



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