Opferwillige Liebe und pflichtgemäße Liebe

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstande. … Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Matthäus 22, 37 - 39) „Dies ist mein Gebot, daß ihr einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe. Größere Liebe hat niemand, als diese, daß jemand sein Leben (seine Seele) läßt für seine Freunde.“ (Johannes 15:12 - 13)

Die Eigenschaften der Weisheit, Liebe, Gerechtigkeit und Macht sind in dem Charakter unseres himmlischen Vaters, unseres Schöpfers, in vollster Harmonie vereinigt. Sie bilden Bestandteile Seines Wesens, die einander harmonisch ergänzen. Und wir sollten bestrebt sein, unserem Charakter dieselben Eigenschaften anzueignen. Wenn wir uns dieser Ausdrücke in Bezug auf die Menschen bedienen, so müssen wir anerkennen, daß die Menschheit diese Charaktereigenschaften nur in einem verhältnismäßig geringen Grade besitzt.

Wir reden von Gerechtigkeit und Liebe als von Charaktereigenschaften, die bei allen Menschen mehr oder weniger unvollkommen vorhanden sind. Auch reden wir von Barmherzigkeit. Diese Eigenschaft, die eine gewisse Offenbarung von Liebe darstellt, geht über bloße Gerechtigkeit hinaus. Wenn wir jemandem einen Geldbetrag schulden, so sind wir nicht barmherzig, wenn wir ihm den Betrag zurückzahlen. Es ist lediglich Pflicht, Gerechtigkeit. Wir sagen von gewissen Dingen, daß sie nicht mehr als recht seien; blieben wir aber dahinter zurück, so würden wir bereits die Grenze überschreiten, wo das Unrecht anfängt. Gewisse Dinge obliegen uns als eine Pflicht, und das, was darüber hinausgeht, würde Barmherzigkeit, Mitgefühl, Liebe sein.

Was ist unsere Pflicht unserem Nächsten gegenüber? Angenommen unser Nächster wäre in Schulden geraten oder hätte sein Leben verwirkt. Was sollen wir für ihn tun? Sollen wir unser Leben für sein Leben hingeben? Sollen wir seine Verpflichtungen auf uns nehmen? Es wäre überaus liebevoll von uns, wenn wir dies täten. Es könnte auch gerecht sein, aber es würde über die Grenze bloßer Gerechtigkeit hinausgehen, denn vom Standpunkte der Gerechtigkeit aus würden wir nicht verpflichtet sein, unserem Nächsten genau das zu tun, was wir wünschen, das er uns tun würde, wenn die Verhältnisse umgekehrt lägen. Die goldene Regel bildet einen Maßstab für das, was wir unserem Nächsten schulden. Wenn wir, nachdem dies geschehen ist, darüber hinauszugehen wünschten, so würden wir mehr tun, als den Anforderungen der Gerechtigkeit zu entsprechen; wir erwiesen dann Liebe, Gunst.

Wir sollten jedoch im Sinne behalten, daß das Gesetz Gottes nicht nur Gerechtigkeit fordert, sondern auch Liebe, und zwar Liebe über alles zu Gott, und Liebe zu unserem Nächsten. Es fordert Barmherzigkeit, Freundlichkeit. Laßt uns die diesbezüglichen Vorschriften beachten, die Gott dem natürlichen Israel unter dem Gesetz gab. Laßt uns sehen, auf was sie sich erstreckten. „Wenn Du den Ochsen deines Feindes oder seinen Esel umherirrend antriffst, sollst du ihn demselben jedenfalls zurückbringen. Wenn du den Esel deines Hassers unter seiner Last liegen siehst, so hüte dich, ihm derselben zu überlassen; du sollst ihn jedenfalls mit ihm losmachen.“ „Wenn deinen Hasser hungert, speise ihn mit Brot, und wenn ihn dürstet, tränke ihn mit Wasser: denn glühende Kohlen wirst du auf sein Haupt häufen, und Jahwe wird dir vergelten.“ (2.Mose 23: 4-5; Sprüche 25:21-22) Wenn Gottes Gesetz eine so weitgehende und umfassende Liebe gebot und sie dem natürlichen Israel zur Pflicht machte, wieviel mehr sollte dann das geistliche Israel diese schätzenswerte Eigenschaft besitzen und offenbaren!

Die Gerechtigkeit verhängte das Todesurteil über den Menschen

Die Strafe, die Gott unserem sündigen Geschlecht auferlegte, hatte für die Menschheit Seufzen, Schmerzen und den Tod im Gefolge. Es war nicht gerade ein Liebeserweis, der durch den Urteilsspruch zum Ausdruck kam. In diesem Urteilsspruch stand die Gerechtigkeit im Vordergrund. Nichtsdestoweniger bildete dieses Todesurteil keine Verletzung des Grundsatzes der Liebe; es stand vielmehr in vollem Einklang mit der Liebe. Zur bestimmten Zeit offenbarte Gott Seine Liebe für den Menschen, indem Er ihm, selbst in seinem gefallenen Zustande, Seinen kostbarsten Schatz, Seinen eingeborenen Sohn, gab. Er ermangelte der Liebe nicht während der ganzen viertausend Jahre, ehe Er Seinen Sohn in die Welt sandte. Seine Liebe blieb bestehen, soweit dies angesichts der Vollkommenheit Seines Charkaters möglich war. Es war jedoch nicht mehr eine Liebe der Gemeinschaft mit einem vollkommenen Wesen, sondern vielmehr eine Liebe teilnehmender Erbarmung.

Die Liebe war nicht verpflichtet, Vorkehrung für die Erlösung der gefallenen Menschheit zu treffen. Es war dies ein Akt reiner Gnade; Gnade gab den Antrieb zur Erlösung und nicht Gerechtigkeit. Indem Gott Seinen Sohn als den Erlöser des Menschen sandte, tat Er einen Schritt, der über das hinausging, was die Gerechtigkeit hätte fordern können. Es lag darin eine Offenbarung der Liebe, des Mitgefühls Gottes, die weit über das hinausging, was Seine Pflicht gewesen wäre. Der Mensch hätte keinerlei Anrecht geltend machen können, denn er hatte alle seine Rechte verwirkt und war vor Gottes gerechtem Gesetz ein Übertreter. Aber Gottes große Barmherzigkeit verschaffte eine Erlösung für dieses Geschlecht von Übertretern, und dadurch wurde Sein herrlicher und wohlwollender Charakter illustriert. Die Liebe Gottes trat darin für uns zutage, daß Christus, als wir noch Sünder waren, für uns starb; und dies geschah nach Jahwes eigenem Plan. Die Liebe vermag also die Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten und sogar die Grenzen der Liebe, die man von einem vollkommenen Charakter fordern kann.

Die Liebe Gottes und Christi, wie sie sich in dem großen Erlösungsplan offenbarte, war eine opferwillige Liebe. Daher sollen auch diejenigen, die berufen worden sind, Glieder des Leibes Christi zu werden, die gleiche Liebe haben. Es ist nicht lediglich die Liebe, die Gottes vollkommenes Gesetz fordert, und zu der alle vernunftbegabten Geschöpfe auf jeder Daseinsstufe verpflichtet sind, sondern es ist mehr. Es ist die Liebe, die gerne das Leben darlegt, das durch den Tod Jesu erkauft worden ist. Dieses Leben wird dargelegt als ein Opfer mit unserem Herrn und Haupte. Wir legen unser Leben dar im Dienste für die Brüder, und dieses Opfer ist annehmbar, weil das Verdienst Christi uns zugerechnet worden ist und uns gerechneterweise vor Gott vollkommen macht. Daher sagte auch der Apostel: „Wir sind schuldig, für die Brüder das Leben darzulegen.“ Die Brüder haben kein diesbezügliches Anrecht an uns, noch wir an sie: aber wir sollten alle gern das Leben darlegen in dem Maße, in dem sich uns Gelegenheit bietet. (1. Johannes 3:16)

Laßt uns die Gesinnung Christi haben

Wie Christus uns dadurch erlöste, daß er sein Leben darlegte als williges Opfer, so laßt auch uns dieselbe Neigung, denselben Willen haben. Dies ist der besondere Bund der Kirche, der Bund zum Opfer. (Psalm 50:5) Dies ist der Bund, den unser Herr mit dem Vater schloß, und wir sollen in seinen Fußspuren wandeln. Die Welt wird ewiges Leben erlangen, wenn sie den Maßstab der Gerechtigkeit erreicht, den Gottes Gesetz vorschreibt. Für uns gilt indes ein höherer Maßstab.

Wenn aber der Apostel sagt, daß die Liebe die Erfüllung des Gesetzes sei, so beschränkt er damit diejenigen, die aus Liebe den Willen des Vaters bis in den Tod tun möchten, keineswegs auf das bloße Halten des Gesetzes, das Israel gegeben wurde. Es gehört mehr dazu, als die bloße Erfüllung der Anforderungen des Gesetzes, um ein Glied des königliches Priestertums, jener erwählten Klasse zu sein, die einen Bund eingegangen ist, ihr Leben opferwillig darzulegen. Es erfordert dies eine sich selbst aufopfernde Liebe. Und indem wir so freudig den Willen unseres Vaters in Bezug auf uns ausführen, werden wir uns würdig erweisen der Herrlichkeit, Ehre und Unsterblichkeit, ja der göttlichen Natur, die der überwindenden Klasse, denen die „mehr als Überwinder“ sein werden, verheißen ist.

WT Juni 1915



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung