Der Weg

Das Bild eines Weges enthält eine Fülle von Anschauungen, die uns den Begriff jenes geistigen Weges vermitteln können, zu dessen Betreten wir seinerzeit eingeladen worden sind. Jeder Weg wird ganz von selbst zum Sinnbild eines Strebens nach einem Ziele hin; er enthält die Möglichkeit und die Verheißung, uns nach einem Ziele hinzubringen. Zunächst aber schlägt jeder Weg eine bestimmte Richtung ein. So bedeutet auch der geistige Weg eine bestimmte Richtung; er enthält ebenso die Verheißung eines Zieles.

Es gibt im Natürlichen viele Ziele und daher auch viele Wege zu dem gleichen Ziele. Doch müssen wir hinzufügen: Gewöhnlich ist einer von den vielen Wegen der kürzeste oder aber der bequemste; dieses ist dann der Weg. Im Geistigen ist es nun ähnlich: Es gibt viele Ziele und viele Wege. Aber nur ein Ziel ist das Ziel, und nur ein Weg ist der Weg, der uns nicht enttäuschen wird.

Es gibt breite und bequem begehbare Wege und wieder andere, die so schmal und beschwerlich sind, daß wir sie nur benutzen, wenn wir erkennen, daß wir auf anderem Wege nicht ans Ziel gelangen werden.

Wir können, wie wir sehen, nicht von Wegen sprechen, ohne daß wir auch von Zielen sprechen müßten. Weg und Ziel gehören untrennbar zusammen. Und doch gibt es Wege, die - wie wir sagen - an kein Ziel führen; wir meinen damit: nicht an ein erstrebenswertes Ziel. Es wäre in der Heiligen Schrift nicht so viel vom Wege die Rede oder vom wahren Wege, wenn es nicht daneben unendlich viele falsche Wege, Irrwege, geben würde. Leider ist es so, daß die große Mehrzahl der Menschen einen bequemen Irrweg, der zu vielen angenehmen Illusionen Anlaß gibt, einem klaren und eindeutigen, übersichtlichen Wege vorzieht. Darum bewegen sich ja nur wenige auf dem schmalen Wege des Lebens und so viele auf der breiten, aber trügerischen Straße des Verderbens, der Straße der Selbsttäuschung, des Unglaubens, der Bequemlichkeit. Fragt man diese Wanderer nach ihrem Ziele, so wird man erfahren, daß das, was ihnen vorschwebt, Lebensgenuß ist. „Lasset uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot.“

Das ist ein Teil jener Wanderer, die auf dem breiten Wege gehen. Aber wir wissen, daß viele, die auf diesem Wege wandern, doch nicht so primitiv denken und streben. Manche von ihnen sind sogar nachdenklich und tiefer veranlagt. Aber von der Selbsttäuschung möchten sie nicht lassen; wenigstens nicht von der Überschätzung ihrer eigenen Person, ihres Wissens, ihres Verstandes und Charakters. Solche haben ihre Vernunft zu ihrem Gott gemacht; ihr Wissen, ihre Bildung und der hohe Begriff, den sie davon haben, macht es ihnen unmöglich, sich vor einem Gott zu beugen, den sie mit ihrer Vernunft nicht fassen können, den sie nicht in eine ihrem Vorstellungsvermögen angepaßte Form zwingen können.

Der schmale Weg kann also in gewissem Sinne ein verborgener Weg genannt werden. Damit man ihn finden kann, bedarf es einer bestimmten Vorbereitung, eines Ziehens und Führens von seiten Gottes durch Lebenserfahrungen aller Art. „Ehe ich gedemütigt wurde, irrte ich“, sagt der Psalmist. (Psalm 119:67) Der schmale Weg mag uns verborgen gewesen sein, weil wir nicht demütig waren; wir mögen nach Gott geforscht und gesucht haben, aber im Geiste der Überheblichkeit. Wir mögen ihn zu erforschen gesucht haben, uns Seiner Existenz zu versichern, so wie man sich einer wissenschaftlichen Tatsache versichert. Aber auf diese Weise läßt sich Gott nicht finden; Er ist ein verborgener Gott. Er läßt sich finden, aber nur von denen, die aufgehört haben, Ihn ihrer menschlichen Vorstellungs- und Fassungskraft unterwerfen zu wollen. Er steht so hoch über derselben, daß diese nie ein Instrument sein könnte, womit wir uns Gottes bemächtigen. Wir müssen uns in Demut dieses großen Abstandes bewußt werden, wenn wir Ihn erkennen wollen.

Aber auch den Weg zu Ihm und den heißen Wunsch und Willen, ihn zu gehen, finden wir nicht durch uns selbst. Nein, auch darüber muß Gott uns Klarheit schenken, und Er wird es tun, wenn wir zu jener demütigen Geistesverfassung gelangt sind, von der der Psalmist redet.

Denken wir mit Staunen und einer gewissen Wehmut an die Zeit zurück, da wir deutlich anfingen, den Weg zu erkennen, und entsinnen wir uns, wie wir da von einer heißen Sehnsucht erfaßt wurden, den Weg auch gehen zu dürfen. Durch verschiedene Erlebnisse ist uns deutlich geworden, daß das, was uns auf den Weg bringt, nicht leere Einbildung ist, sondern es ist etwas Neues in unser Leben getreten, ohne das wir den verborgenen Weg nicht hätten sehen können, nämlich der Zug des Heiligen Geistes, den zu empfangen wir allmählich geeignet gemacht worden sind.

Dieser Geist bewirkt in uns ja, wie alle erfahren haben werden, eine förmliche Revolution. Von einem Tag auf den andern brechen wir mit Gewohnheiten, die uns sündig oder unpassend erschienen sind. In dieser Zeit der „ersten Liebe“, des ersten brennenden Eifers, Gott wohlzugefallen, müssen wir die aufwühlende Macht des Geistes Gottes geradezu bewundern.

Müssen wir nicht aber leider auch zugeben, daß sich dieses schöne Tempo später oft verlangsamt, daß diese Begeisterung zuweilen abgeschwächt worden ist? Es ist ja freilich daran gelegen, daß unsere Aufgaben schwieriger, daß der Weg steiler geworden ist? Darum ist das Wort des Apostels so wahr und so nötig: „Ihr bedürfet des Ausharrens und der freudigen Beständigkeit.“ Wie schwer ist es, auszuharren unter dem Drucke von Schwierigkeiten, und zwar nicht auszuharren in verbissenem Trotz, in dumpfer Verkrampftheit, nein, in freudiger Beständigkeit!

Da liegt gewiß unser größter Kampf, im Ausharren. Wir vermögen es nur, wenn wir versuchen, den Weg immer wieder mit der gleichen Glut zu ergreifen, mit der gleichen Begeisterung zu sehen, wie im Anfang, wenn wir auch geklärter und von mancher leeren Illusion befreit sein mögen. Wir vermögen es nur, wenn wir unter allen Umständen das Ziel im Auge behalten, das groß und herrlich ist. Weg und Ziel gehören zusammen; wir können den Weg nicht gehen, wenn wir nicht vor unserem geistigen Auge das Ziel erstehen lassen, in all seiner Größe und Herrlichkeit. Wir müssen das gebetsvoll tun, indem wir hinein gehen ins Heiligtum, in die Gegenwart Gottes, uns mit ihm besprechen, Ihn bitten, unsere Herzen und Sinne weiter zu öffnen der Einwirkung Seines Heiligen Geistes. Nur von da her kann diese freudige Beständigkeit uns gegeben werden. Wir sollen ja nicht nur in den Versammlungen Freude in uns tragen, sondern vielmehr im widrigen Alltagstrott, da so vieles an uns herantritt, was uns traurig stimmen kann. Freudige Beständigkeit an den Tag legen, heißt soviel wie ein beständiges Wissen um das herrliche Ziel in sich tragen, im Hinblick auf das wir willig gemacht werden, durch alle Schmach hindurchzugehen, unser Kreuz auf uns zu nehmen.

„Deine Ohren werden ein Wort hinter dir her hören: Dies ist der Weg, wandelt darauf!“ (Jesaja 30:21)

Sollte der Weg schwer zu erkennen sein? Unser Weg ist ja doch ein „gerader Weg“. Ist er nicht voller geradliniger Konsequenz? Unerbittlich in seinen Forderungen, keine Kompromisse, kein Ausscheren nach rechts und nach links duldend?

Und doch ist anderseits dieser Weg oft alles andere als deutlich und frei und übersichtlich. Er führt über Berg und Tal. Wie oft stellt er uns vor unlösbar scheinende Aufgaben! Gibt es nicht unzählige verwirrende Abzweigungen? Biegt er nicht nach rechts und links? Es kommt doch oft vor, daß wir wie vor einer Wegscheide stehen, nicht wissen, sollen wir nach rechts oder nach links abzweigen. Ein lieber Bruder erzählte, daß er sich vor einer solchen Entscheidung befand, da er nicht wußte, ob der Weg nach rechts oder der nach links der Weg des Herrn sei. Da kam ihm eben das erwähnte Wort aus Jesaja zu Hilfe; er faßte Vertrauen in die Führung des Herrn und hatte Klarheit und Gewißheit zurückgewonnen.

„Deine Ohren werden ein Wort hinter dir her hören.“ Was wird das heißen? Ich denke: Wie ein Vater auf dem Wege seine Kinder gerne vor sich hat, damit er sie beständig unter Kontrolle habe und sie vor Gefahren zu warnen vermöge, so hat auch der himmlische Vater alle, die auf dem Wege gehen, unter beständiger Aufsicht und Kontrolle. Er steht hinter ihnen, wegweisend, warnend, bewahrend und tröstend, wenn einem Unheil zugestoßen ist. Stehen wir nun vor einem Scheidewege, vor entscheidenden Entschlüssen, so werden wir die Stimme des Vaters hören. Wir vernehmen sie im Wort Gottes, das uns vertraut ist und das sich ja allezeit als lebendig erweist; aber auch durch den Geist Gottes in uns selbst. So stehen wir ja immerfort vor Scheidewegen, wenn wir auch oft die Tragweite der Entscheidung gar nicht sofort ermessen können. Halten wir uns daher an diese Verheißung, daß wir ein Wort hinter uns vernehmen sollen, das von Gott kommt und uns den Weg weist, das uns darüber belehrt, welche von den zwei oder vielen Abzweigungen, an die wir geraten sind, zum richtigen Ziele führt. Aber anderseits ist ja, wie gesagt, unser Weg absolut gerade, eindeutig klar und unerbittlich in seinen Forderungen. Auch von diesem Weg gilt: Wer A sagt, muß B sagen. Haben wir den Weg betreten, so gibt es kein zurück mehr, wenigstens nicht ohne schmerzlichen Verlust. Nur ein Vorwärts. Haben wir den Weg betreten, verlassen ihn aber wieder, was bleibt uns dann noch übrig? Es kann nur eine furchtbare Leere platzgreifen, eine innerliche Verarmung, die uns zu lebenden Leichnamen macht; jeder tiefere Sinn und Zweck des Lebens ist für uns dahingefallen. „Denn wenn wir mit Willen sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, so bleibt kein Schlachtopfer für Sünden mehr übrig.“ (Hebräer 10:26) „Wir aber sind nicht von denen, die sich zurückziehen zum Verderben, sondern von denen, die da glauben zur Errettung der Seele.“ (Vers 39)

Wenn wir die Eigentümlichkeit unseres Weges gebührend zu würdigen vermögen, so erkennen wir, daß hier jedes Zurückweichen in Tat und Wahrheit den Tod bewirken muß. Wir sehen daher, daß der Weg unbedingte Konsequenz verlangt; der erste Schritt bedingt alle andern. Dieses lehrt uns ein Blick auf zwei markante Persönlichkeiten, die auf diesem Wege gewandelt sind, auf unseren Herrn und auf den Apostel Paulus. Die zwei Wanderer haben etwas Gemeinsames. Sie beide sind, wenn auch zu verschiedenen Zeiten, „hinaufgezogen nach Jerusalem“. Und zwar sind sie beide in der gleichen Beschwertheit des Geistes dahinauf gezogen, indem der Tod und Gefängnis ihrer dort wartete. Hören wir sie selber über diesen Weg: „Siehe, wir ziehen hinauf gen Jerusalem, und des Menschen Sohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden, und sie werden ihn zum Tode verurteilen und werden ihn den Heiden überantworten, ihn zu verspotten und zu geißeln und zu kreuzigen, und am dritten Tag wird er auferstehen.“

Und Paulus spricht zu den Ältesten der Versammlung zu Ephesus: „Ihr wisset, wie ich vom ersten Tage an, da ich Asien betrat, die ganze Zeit unter euch gewesen bin, daß ich dem Herrn diente mit aller Demut unter vielen Tränen und großen Anfechtungen, die mir widerfuhren durch die Nachstellung der Juden. Wie ich nichts verschwiegen habe von dem, was nützlich ist, daß ich es euch nicht öffentlich und in den Häusern verkündet und gelehrt hätte. Und nun, siehe, gebunden im Geiste reise ich gen Jerusalem, ohne zu wissen, was mir daselbst begegnen wird, außer daß der Heilige Geist mir in jeder Stadt bezeugt und sagt, daß Trübsale und Bande meiner warten … Aber nicht der Rede wert halte ich mein eigenes Leben; denn es gilt meinen Lauf zu vollenden und den Dienst, den ich vom Herrn empfangen habe, nämlich zu bezeugen das Evangelium der Gnade Gottes.“

Gebunden im Geiste - will Paulus damit nicht sagen, daß er diesen Weg gehen mußte, ein Gefangener Jesu Christi, obwohl das Fleisch, der natürliche Mensch in ihm sich dagegen auflehnte, Leiden und Gefangenschaft auf sich zu nehmen? „Gebunden“ aber auch durch die klare Erkenntnis, daß nur der neue, jetzt vor ihnen liegende Schritt über den Wert des ganzen bisher zurückgelegten Weges entschied? Gewiß war es so. „Sei getreu bis zum Tode, und ich werde dir die Krone des Lebens geben.“ Darum sagten wir eben, daß in dem ersten Schritte auf unserem Wege auch der letzte schon enthalten sei, daß der erste den letzten bedinge. Sowohl unser Herr als Paulus gehen diesen Weg hinauf nach Jerusalem, weil sie müssen. Wir dürfen dieses Müssen aber nicht mißverstehen. Es ist keine Rede von einem Zwang, den der Geist Gottes ausübte in der Weise, wie etwa die Dämonen Menschen beeinflussen und unterjochen. Es ist deswegen ein Müssen, weil vernünftigerweise von einem Zurück keine Rede sein kann. Denn nicht irgendetwas steht auf dem Spiele, nein, das Höchste, das Vollkommene, ein absoluter Wert.

Darum: Wenn wir diesen Weg betreten haben mit Klarheit über das Ziel, was sollen wir dann noch, wenn wir ihn wieder verlassen hätten? Verlassen, weil uns seine Forderungen zu hart und unerbittlich erschienen wären? Was sollen wir noch, nachdem wir das Vollkommene erkannt und doch abgelehnt haben? Was sollten wir jetzt noch erstreben mögen? Es ist unvorstellbar, wie das Leben jetzt noch einen befriedigenden Sinn bekommen könnte.

Die Wahrheit hat das Bestreben, den beherrschenden Einfluß des Fleisches in uns immer mehr auszuschalten. Solange wir die Wahrheit allerdings als bloßes Kopfwissen mit uns herumtragen, wird sie unser natürliches Teil in keiner Weise beeinträchtigen; dazu kommt es erst, wenn in uns der heilige Wille drängend wird, dieses Wissen in Taten umzusetzen, ein Täter des Wortes zu werden. Bei Jesus und Paulus sehen wir nun, daß diesem natürlichen Menschen nicht mehr das geringste Mitspracherecht eingeräumt wird, daß vielmehr die erkannte Wahrheit alle und jede Schritte ihres Laufes einzig bestimmt.

Wir dürfen nicht denken, daß das bei ihnen ohne schweres Ringen abging. Wir wissen, wie der Herr in Gethsemane gerungen hat gegen den Willen des Fleisches, der auch bei Ihm - hier zum letztenmal - sich geltend zu machen suchte, wie die Angst vor der drohenden Auflösung Ihn bedrängte. Und auch von Paulus wissen wir, daß er bis aufs Blut kämpfen mußte gegen das wider die göttliche Wahrheit gerichtete Begehren seines natürlichen Menschen. Aber sie haben gesiegt in der Kraft des göttlichen Geistes; sie vermochten den Weg immer wieder weiterzugehen. Sie gingen von Kraft zu Kraft und sie erschienen endlich vor Gott in Zion (Psalm 84:7) als Überwinder.

Doch kehren wir zu der Betrachtung unseres „Weges“ zurück. Wir haben oben gesagt, daß wir diesen Weg gemeinsam gehen. Das ist nur in gewisser Hinsicht wahr. Andererseits geht wiederum ein jeder diesen Weg ganz allein, jeder seinen eigenen Weg. Wie sollen wir diesen Widerspruch verstehen? Wir sagen: Wir sind zwar alle zum gleichen Ziel berufen, aber auf dem Wege zu diesem Ziele werden wir alle doch wieder ganz individuelle, ganz eigenartige Erfahrungen machen müssen, eigene Schicksale haben. So kommt es, daß wir uns dann oft sogar recht einsam, recht verlassen und unverstanden fühlen können auf diesem Wege. Unverstanden, allein gelassen natürlich nur von Menschen, von unseren Mitpilgern, nicht vom Herrn. Aber, es gibt so vieles, was ein jeder ganz allein für sich auskämpfen muß, ohne daß ihm irgend jemand, selbst wenn dieser wollte, dabei helfen kann.

Es ist dies aber ganz gewiß notwendig und für uns nach Gottes Willen so angeordnet. Es scheint ja, daß es etwas sehr Schönes wäre, wenn wir in jeder uns bedrängenden Lage zu einem Bruder oder einer Schwester Zuflucht nehmen könnten, und diese imstande wären, uns auf jede Frage Antwort zu geben, jeden Kampf uns siegreich bestehen zu helfen. Aber wie könnten wir auf diese Weise je selbständig, unabhängig, völlig frei werden, wie der Herr uns verheißen hat (Johannes 8:36), persönlich befestigt und gegründet? Und haben nicht auch unsere Vorläufer im Glauben diese Erfahrung des Alleinseins in schwersten Stunden machen müssen? Wer hat dem Herrn Jesus in Seinem schweren Ringen in Gethsemane beigestanden? Seine Jünger waren nur einen Steinwurf weit von Ihm entfernt; aber als Er in Seinem Ringen zu ihnen kam, da schliefen sie. „Also nicht eine Stunde vermochtet ihr mit mir zu wachen?“ Er will doch damit sagen: So laßt ihr mich den schwersten Kampf allein auskämpfen, versucht nicht einmal, mir beizustehen.

So kommen auch für einen jeden von uns Kämpfe innerer Art und Schmerzen, schwerste Prüfungen, in denen wir allein sind, ohne Hilfe und Verständnis von seiten der liebsten Brüder oder Schwestern. Da ist dann der Weg für uns ein ganz persönlicher, ein ganz einsamer geworden. Aber solche Erfahrungen sind uns sehr nötig, damit wir frei und unabhängig werden. Und nur als Unabhängige werden wir den Weg mit Sicherheit erkennen; nur als solche, welche allein die Stimme des Oberhirten als maßgebend betrachten, werden wir die Fußspur des Herrn festhalten können zu unserer Errettung. Aber auch nur als solche können wir unseren Weggenossen von Nutzen sein.

Darum sagt der Psalmist: „Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist, in deren Herzen gebahnte Wege sind.“ (Psalm 84:5). Allein in Gott soll unsere Stärke sein. Wir dürfen nicht bedenkenlos unser Glaubensleben nach dem Wort und Beispiel eines Glaubensgenossen aufbauen; denn alle sind voller Schwachheiten, und alle können noch auf Abwege geraten oder fallen. Und ist die Gefahr nicht groß, daß wir, die wir ganz auf das Beispiel eines Bruders abgestellt haben, mitgerissen werden in seinem Fall, wenn dieser anfängt zu versagen? Die Neigung ist stark und häufig, sich an solche anzuschließen, die als starke Christen erscheinen. Hüten wir uns davor, unsere Stärke in einem anderen zu suchen als in Gott. Bei Ihm gibt es kein Wanken und kein Fallen.

Wir haben gesehen, daß der „Weg“ von uns Schweres verlangt, ja daß er äußerste und bedingungslose Hingabe fordert. Wir haben gesehen, daß es sogar kein Zurück mehr gibt von diesem Wege, sondern nur ein Vorwärts. So ist es. Aber dennoch wollen wir uns durch diese Forderung der rückhaltlosen Übergabe nicht entmutigen lassen. Manche von uns mögen, als sie den Weg betraten, die eiserne Konsequenz desselben nicht völlig erfaßt haben. Erst seither sind wir uns klarer geworden über die Tragweite seiner Forderungen, erst seither ist uns bewußt geworden, daß wir „diesen Schatz“ in zerbrechlichen, irdenen Gefäßen tragen. Aber sei es nun, daß uns der Weg schon manche Opfer gekostet habe oder daß wir schon manche Niederlage erlitten haben, daß wir uns oft müde und entmutigt fühlen und meinen, einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, lasset uns die Verheißung Gottes allezeit festhalten, daß wir auf unserem Wege nie stärker belastet werden sollen, als wir zu tragen imstande sind - vorausgesetzt, daß unser Wunsch, den Weg zu gehen; entschieden und stark genug ist. Beachten wir die Worte, die der Herr zu der Versammlung in Philadelphia spricht: „Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe eine geöffnete Tür vor dir gegeben, die niemand zu schließen vermag; denn du hast eine kleine Kraft.“ (Offenbarung 3:8) Es kommt darin zum Ausdruck, daß der Herr sehr wohl und besser als wir selbst unsere Kraft zu beurteilen vermag.

Bei all unserer Schwachheit brauchen wir doch nicht zu verzweifeln, denn wir haben einen Hohepriester, der Mitleid zu haben vermag mit unserer Schwachheit. Er ist ja vor uns diesen Weg gegangen und ist in gleicher Weise versucht worden wie auch wir.

Er wird auch uns eine „geöffnete Tür“, d. h. die Möglichkeit schenken, in Seiner Kraft das Ziel zu erreichen, das in seiner Schönheit und Größe den Wunsch in uns erweckt hat, daß wir danach ringen. Darum „laßt uns das Bekenntnis der Hoffnung unbeweglich festhalten, denn treu ist der, der die Verheißung gegeben hat.“ - Hebräer 10:23. - Amen



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