Die Summe aller Tugenden

„Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe.” - 1. Korinther 13:13

Der Apostel Paulus hatte in den Versen, die unserem Leittext vorangehen, von den verschiedenen wunderbaren Gaben geredet, die damals allen denen zuteil wurden, die durch den Geist zu einer neuen Natur gezeugt worden waren. Wenn damals jemand nicht irgendeine dieser besonderen Gaben besaß, so besagte das mehr oder weniger, daß er kein Glied der Kirche Christi war. Diese übernatürlichen Gaben dienten auch dazu, die Urkirche im geistigen Wachstum zu fördern. In jenen Tagen gab es keine Bibeln, und selbst wenn man sie gehabt hätte, so war doch die Zahl derer, die sie hätten lesen können, sehr gering; daher bedurfte die Kirche eines besonderen Beistandes, der später entbehrlich und daher aufgehoben wurde.

In seinem Brief an die Versammlung zu Korinth sagt der Apostel: „Einen noch vortrefflicheren Weg zeige ich euch.” Dann fährt er fort, von der alles übertreffenden Frucht der Liebe zu reden. Ein jeder, der den Heiligen Geist hat, muß wenigstens in etwa diese Frucht der Liebe aufweisen, sei es die zarte Blume, die die Fruchtknospe enthält, oder die reifende Frucht, oder die völlig entwickelte und ausgereifte Frucht. Unser Himmlischer Vater, der die Herzen ansieht, weiß, wie sein Heiliger Geist im Herzen danach trachtet, das Fleisch zu beherrschen und die Gesinnung sowohl auch als alle Worte und Handlungen zu lenken. Wir vermögen nicht einer des anderen Herz zu beurteilen. Der Apostel sagt, daß er sich nicht einmal fähig fühle, sich selbst richtig zu beurteilen, sondern daß er das Gericht dem Herrn überlasse. Er wußte, daß sein Herz dem Herrn treu ergeben war, und daß er bestrebt war, alles zu sein, was er nach den Gedanken des Herrn sein sollte. Obwohl er sich seiner Unfähigkeit bewußt war, immer gottgefällig zu handeln, wußte er doch, daß der Meister die Ergebenheit seines Herzens anerkennen würde: und daher tat er sein Bestes und überließ das übrige Gott.

Unser Glaube an den Herrn und unsere Hoffnung auf ihn veranlassen uns zu dem ernsten Bestreben, die Früchte der Liebe in all ihren verschiedenen und lieblichen Phasen zu entwickeln. Nachsicht bildet einen Teil der Liebe; Sanftmut bildet einen Teil der Liebe; und ebenso auch Demut und Bruderliebe. Die Frage nun, auf die es bei jedem Kinde Gottes ankommt, ist nicht die: Welchen Eindruck erwecke ich bei anderen und welche Bildung oder Beziehungen habe ich nach dem Fleische? Oder: wie gut vermag ich zu predigen? Oder gar: Wie viele habe ich zur Wahrheit gebracht? Die wichtigste Frage ist die: In welchem Grade habe ich die Eigenschaft der Liebe entwickelt? In welchem Maße entspricht mein Charakter demjenigen Christi?

Liebe ist die Hauptsache

Warum nimmt die Eigenschaft der Liebe im Worte Gottes eine so hervorragende Stellung ein? Wir antworten: Weil sie der erste, der wichtigste und der hauptsächlichste Gegenstand ist, denn sie bildet die Erfüllung des Gesetzes Gottes: und wahrlich, die opferwillige Liebe, die von den Heiligen Gottes in diesem Zeitalter erwartet wird, geht noch über die Anforderungen des vollkommenen Gesetzes hinaus. Aber warum wird die Liebe an erster Stelle genannt? Gott hat sie nicht willkürlich dort hingesetzt, auch nicht auf Grund eines Machtanspruches, weil es ihm eben so gefiel. Nein. Er hat die Liebe deshalb an die erste Stelle gesetzt, weil keine andere Charaktereigenschaft so lieblich, so schön, so glück- und freuderzeugend und so segensreich für alle diejenigen ist, bei denen sie ihre Wirkung entfaltet. Sie ist das eigentliche Wesen des Charakters Gottes. „Gott ist Liebe!” Diese Eigenschaft stellt in besonderer Weise seine Persönlichkeit dar. Obschon Gott allmächtig und allgerecht ist, so sagen wir doch nicht, daß Gott Macht sei, oder daß er Gerechtigkeit sei, sondern Gott ist Liebe. Er betätigt seine große Macht nur als einen Ausfluß seiner Liebe. Er bedient sich seiner Gerechtigkeit nur in vollster Harmonie mit seiner herrlichen Wesenseigenschaft der Liebe. All sein Tun entspringt der Liebe.

Wer daher Gott ähnlich sein möchte, muß liebevoll sein und die Liebe muß die beherrschende Charaktereigenschaft seines Lebens bilden. Liebe und Gerechtigkeit sind unzertrennlich. Liebe wird in alle Ewigkeit fortbestehen - und nur diejenigen, die eine lebendige Verkörperung dieser Charaktereigenschaft werden, werden ewig leben.

Daraus geht hervor, welch wichtige Bedeutung der Entwicklung der Liebe in dem Leben des einzelnen jeden zukommt.

Neben der wunderbaren Bergpredigt unseres Herrn steht wohl die erhabene Abhandlung des Apostel Paulus über die Liebe in dem 13. Kapitel seines ersten Briefes an die Korinther mit an erster Stelle. Beide Abhandlungen lehren uns den selben Gegenstand, betrachten ihn jedoch von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Alle Belehrungen des göttlichen Wortes sowie die göttlichen Vorkehrungen sollen in unserem Leben den Zweck erfüllen, uns als Schüler in der Schule Christi heranzubilden und unseren Charakter zu entwickeln, sowie unser ganzes Verhalten im Einklang mit den Anforderungen der Liebe zu beeinflussen. Der Meister sagte: „Ein neues Gebot gebe ich euch (der Kirche), daß ihr einander liebet.” Kein Wunder, daß, da die Liebe die Erfüllung des Gesetzes und das Band der Vollkommenheit bei allen Kindern Gottes ist, die Schrift darauf Nachdruck legt, daß Gott Liebe ist, und daß, wer nicht liebt, Gott nicht kennt! Unser Herr sagte daher auch: „Dies ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, erkennen” - nämlich den Gott, der Liebe ist.

Diese edle Eigenschaft des christlichen Charakters kann nicht im Handumdrehen erlangt werden. Sie ist ein Gewächs, dessen Entwicklung das Hauptziel jedes geistgezeugten Kindes Gottes ist, das Gott zu erkennen und die große Belohnung des Lebens auf höchster Daseinsstufe begehrt, und das den Vater und unseren Heiland von Angesicht zu Angesicht sehen und ewiglich in ihrer Gegenwart leben möchte.

Alle Errungenschaften sind wertlos ohne die Liebe

Der Apostel Paulus weist in diesen wunderbaren Ausführungen darauf hin, daß diese Krone aller Tugenden, die Liebe, die Eigenschaft bildet, die erforderlich ist, um irgendwelchen Dienst Gott annehmbar zu machen. Wenn Liebe nicht der leitende Beweggrund ist, durch den wir angetrieben werden, so ist der größte Eifer, die größte Redekunst zu Gunsten der Wahrheit und Gerechtigkeit in den Augen Gottes wertlos, und er wird alsdann solche Fähigkeiten nicht belohnen können. Wenn es an Liebe mangelt, so vermögen uns selbst große Fähigkeiten in der Erklärung der Geheimnisse Gottes, viel Studium und große Erkenntnis die Anerkennung des Herrn nicht einzutragen. Selbst ein Berge versetzender Glaube würde wertlos sein, wenn Gott in den innersten Falten des Herzens einen Mangel an Liebe gewahrte. Wenn jemand all seine Habe zur Speisung der Armen oder zur Ausbreitung des Evangeliums gäbe, so würde ihm das doch Gottes Anerkennung nicht eintragen, wenn Liebe nicht der Beweggrund gewesen wäre. Selbst der Tod eines Märtyrers hätte keinen Wert, wenn er nicht aus Liebe zu dem Herrn und seiner Wahrheit veranlaßt worden wäre.

Warum dieses? Weil solche Dinge aus selbstsüchtigen Beweggründen geschehen können, damit Menschen es sehen und der Stolz genährt wird. Unser ganzer Dienst muß durch Liebe Gott geweiht sein, denn sonst ist alles durchaus wertlos gleich „einem tönenden Erz oder einer schallenden Zimbel.”

Das Spektrum der Liebe und die Bestandteile desselben

Ein Universitätsprofessor sagte in seiner Abhandlung über „das Größte in der Welt” - die Liebe -: „So wie ein Gelehrter einen Sonnenstrahl auffängt und ihn durch ein Kristall-Prisma fallen läßt, und so wie der Strahl an der anderen Seite des Prismas hervorkommt, in seinen Grundfarben - alle Farben des Regenbogens - zerlegt, so läßt auch der Apostel Paulus die Liebe durch das herrliche Prisma seines inspirierten Verständnisses fallen, und sie kommt an der anderen Seite, in ihre Grundbestandteile zerlegt, hervor. Und in diesen wenigen Worten haben wir gewissermaßen das Spektrum der Liebe, die Analyse der Liebe. Möchtest du ihre Grundbestandteile wissen? Ihre Namen sind gang und gäbe, denn von den Charaktereigenschaften derselben hört man täglich reden, weil es sich um Dinge handelt, die jeder Mensch im Leben allerorts zu üben vermag. Weißt du, wie sich aus einer Anzahl gewöhnlicher Tugenden die über alles erhabene summum bonum, der Quintessenz des Guten, zusammensetzt?

„Das Spektrum der Liebe hat neun Bestandteile:

Geduld - die Liebe ist langmütig
Gütigkeit - ist gütig
Wohlwollen - die Liebe neidet nicht
Demut - die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf
Höflichkeit - sie gebärdet sich nicht unanständig
Selbstlosigkeit - sie sucht nicht das Ihrige
Gleichmut - sie läßt sich nicht erbittern
Edelmut - sie rechnet Böses nicht zu
Aufrichtigkeit - sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit.

Dem Vorstehenden fügen wir drei weitere Bestandteile hinzu:

Beständigkeit - die Liebe erträgt alles, erduldet alles
Vertrauen - sie glaubt alles
Hoffnung - sie hofft alles.”

Wir stimmen dem Professor darin nicht zu, daß diese Tugenden von jedem allerorts geübt werden können, noch auch daß sie gang und gäbe sind. Wir bestreiten, daß diese Früchte insgesamt dem „natürlichen Menschen” eigen sind. Der natürliche Mensch kann in etwa gütig, demütig, höflich, geduldig, freundlich sein, aber diese Charaktereigenschaften bilden nicht den Kern seines Wesens. Sie mögen ihn in etwa zieren, jedoch nicht als ein Ausfluß der inneren Tugenden, wie sie der heilige Geist, der Geist der Liebe, hervorbringt. Diese Eigenschaften sind, da wo sie sich bei dem natürlichen Menschen finden, kein Beweis der Gotteskindschaft. Wenn jemand nicht wiedergezeugt worden ist durch das Wort der Wahrheit und durch den heiligen Geist, so wird er durch die Nachahmung gewisser äußerer Kund-gebungen der Liebe kein Kind Gottes. Auch erlangt er dadurch nicht die Belohnungen und Segnungen, die das Teil der Kinder Gottes sind und die nur auf dem einen Wege zu erlangen sind, nämlich durch Jesum Christum, die Tür.

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe



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