Das verborgene Gewicht der Heilung des Blindgebornen (Joh.9:1-5)

Die Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen ist nicht nur eine wunderbare Kundgebung der Allmacht Gottes in Jesu - und dabei eine offenkundige Darstellung menschlicher Erbärmlichkeit, wie sie in dem Verhalten der jüdischen Führerschicht dieser gewaltigen Gottesoffenbarung gegenüber zutage tritt; dieses ganze Ereignis scheint auch in einem symbolhaften und prophetischen Sinn auf die kommende kirchengeschichtliche Entwicklung hinzuweisen.

Die Erscheinung eines von Geburt an blinden Menschen wirft herausfordernd die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf. Wie sollen wir es verstehen, daß ein Mensch mit so großen Benachteiligungen für sein Lebensglück und seine Existenz auf die Lebensbühne tritt? In unserem Fall wird besonders anschaulich, daß ein solcher von vorneherein als ein Ausgestoßener der menschlichen Gesellschaft und lästiger Bettler ein kümmerliches, freudloses Leben zu führen verurteilt ist. Dabei wird eine eigene Verschuldung solchen Schicksals von Jesus noch ausdrücklich in Abrede gestellt.

Anders hatten sich die Pharisäer diese Frage beantwortet: „Du bist ganz in Sünden geboren - und du lehrst uns?” Mit diesem Vorwurf wollen sie dem unangenehmen „Lehrer” den Mund stopfen (Vs.34). Sie lösen die Frage also in der Weise, daß die Ursache des Unglücks in einer besonderen Sündhaftigkeit und Verwerflichkeit dieses bedauerlichen Menschen gelegen habe.

Für einen Juden ist es klar, daß die Verantwortung für ein dermaßen verlorenes Leben nicht auf Gott fallen darf. Denn: daß ER gerecht ist - das ist die Fundamental-Lehre des jüdischen Glaubens. Der Grund allen Unglücks und aller Unvollkommenheit auf dieser Welt liegt beim Menschen, in der Erbsünde. Auch die Jünger Jesu haben sich angesichts des menschlichen Elends dieses Menschen die Frage nach der Ursache gestellt: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde?”

Daß diese Frage einen logischen Fehler enthält, ist oft bemerkt worden. Wie sollte einer  v o r  seiner Geburt sich schon durch sündige Strafe zuziehen? Ganz vernünftig scheint aber die Annahme, daß die Eltern die Verantwortlichen seien; ist den Jüngern doch der göttliche Grundsatz bekannt, daß die Sünden der Väter heimgesucht werden bis in das dritte und vierte Geschlecht. Jesus aber lehnt diese Begründung des Schicksals des Blindgeborenen ab: „Weder dieser hat gesündigt, noch seine Eltern, sondern: daß die Werke Gottes an ihm offenbar würden.”

Wir werden gut daran tun, diese Antwort Jesu in zwei Teile zu zerlegen. Zunächst erklärt Er, daß „weder dieser, noch seine Eltern gesündigt haben.” Jesus will damit nicht ausschließen, daß bei menschlichen Mißgeburten, angeerbten körperlichen oder geistigen Defekten, Sünde im Spiel sei. Nur braucht man sich die Sache nicht so einfach zu machen, daß man immer an eine besondere und ausschließliche Verantwortung der Eltern denkt. Das würde zu ganz ungerechten Urteilen führen. Es ist - ganz einfach - die allgemeine menschliche Sünde, die in extremen Fällen zu derartigen körperlich-geistigen Entartungserscheinungen führen kann. Und was haben sie uns zu sagen? Sie haben uns zu sagen: Die Schuld an solchen abschreckenden Erscheinungen und Schicksalen ist  u n s e r  a l l e r  Schuld. Und wenn so enterbte Menschenkinder der Gesellschaft zur Last fallen, so hat sie diese Last nicht unwillig, sondern in bußwilliger Gesinnung zu tragen.

Gut. Aber wo bleibt die Gerechtigkeit des Allerhöchsten, wenn solche von vornherein zu einem jämmerlichen Dasein bestimmte Menschen geboren werden? Was soll uns das sagen?

Es soll uns (wie alles Unglück und Unheil, das in der Welt ist), sagen, daß  G o t t e s  Z o r n  über dem abgefallenen Geschlecht waltet: daß der Mensch an sich vom Himmlischen Vater geschieden ist und gar keinerlei  A n s p r u c h  auf Glück und Leben zu erheben hat; daß alle diese Ansprüche ohne Rechtsgrundlage sind. Ferner wird es uns sagen, daß der Glücksunterschied zwischen dem Armen und dem Reichen, dem Gesunden und dem Kranken - alles in allem gesehen - nicht so groß zu sein braucht, wie es vielleicht den Anschein hat. Weder ist der Reichste und Begabteste so glücklich, wie es scheint, noch der Arme und Enterbte so ohne jede Lebensgenugtuung. Die Gerechtigkeit des Allmächtigen ist immer da - aber als verborgene und nicht ohne weiteres äußerlich konstatierbare. Ganz offenbar wird die Gerechtigkeit unseres Lebengebers in der Unwiderlegbarkeit, daß das Ende eines jeden Lebens der  T o d  ist.

Aber auf die Erörterung der Verantwortungsfrage geht der Herr hier garnicht ein, sondern Er macht die Jünger darauf aufmerksam, daß dieser Blindgeborene in Seinen Weg geführt worden ist, damit sich die Herrlichkeit Gottes an ihm offenbare. Damit ist das Schicksal  d i e s e s  Blindgeborenen genügend erklärt. Dieser Blindgeborene hat eine Rolle innerhalb des Offenbarungsplanes des Allmächtigen zu spielen. Die Frage nach größerer oder geringerer Verantwortung ist es nicht, die Jesus interessiert, sondern ganz allein die Frage, welche Stellung die Menschen jetzt Ihm, dem Gottgesandten gegenüber einnehmen werden.

Vom Blindgeborenen weiß Er vom ersten Augenblick an, daß Er diesen heilen wird, heilen muß. Das war im Hinblick darauf, daß Jesus ja nicht mehr lange das „Licht” dieser Welt sein würde, ein dringendes Werk. Durch die Frage der Jünger bezüglich der Verantwortung des Blinden ist Jesu Helferwille keineswegs veranlaßt worden. Seine Antwort beweist, daß Er sich schon zur Hilfe aufgefordert wußte, als diese Frage gestellt wurde. „ I c h  m u ß  die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat.” Alles im Leben Jesu ist einer hohen Notwendigkeit unterworfen, das Geringste nicht zufällig oder willkürlich. Kranke gab es noch viele, die der Herr heilen konnte. Aber diesen Blindgeborenen mußte Er nun heilen. Darin lag ein besonderer Sinn.

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Nach diesem  v e r b o r g e n e n  S i n n  fragen wir jetzt. Was bedeutet der „Blindgeborene”? Das Normale ist dieser Fall nicht. Ein Blinder war gewöhnlich einmal  s e h e n d  - und ist im Laufe seines Lebens in langsamer Entwicklung oder plötzlich blind  g e w o r d e n.  Also gibt es „Sehende”, „Blindgewordene” und „Blindgeborene.” Das Normale ist der Sehende und Sehendgeborene; eine nicht seltene Erscheinung ist der Blindgewordene, und ein Ausnahmefall ist der Blindgeborene. Viele natürliche Erscheinungen sind in der Heiligen Schrift  B i l d e r  für geistige Gegenbilder. Und auch  h i e r  gibt es „Sehende”, „Blindgewordene” und” Blindgeborene”. Ins Geistige übersetzt bedeutet das: solche, die die göttliche Wahrheit erkennen, andere, die sie einst erkannt haben, dann aber langsam und unmerklich (oder auch plötzlich) „blind” geworden sind, und endlich Blindgeborene, die nie zu einer Erkenntnis der wunderbaren, göttlichen Wahrheit gekommen sind. Nur ist es auf geistigem Gebiet gerade  u m g e k e h r t  wie im Körperlichen. Wenn wir von der Wahrheitserkenntnis reden, so müssen wir feststellen, daß die Blindgeborenen das Normale sind - blind geboren und blind bleibend ihr ganzes Leben lang. Andere, die einst in einem mehr oder weniger bedeutenden Grad erleuchtet waren, aber diese Erleuchtung wieder preisgegeben haben, sind keine seltene Erscheinung. Die große Ausnahme sind die Erleuchteten, die im Licht bleiben und deren Erleuchtung eine ständig zunehmende ist.

Als Jesus einem Mann begegnete, von dem man Ihm sagte, daß er ein Blindgeborener sei, da lag es Ihm, der in allen wirklichen Dingen ein Spiegelbild der geistigen Dinge sah, offenbar nahe, in dem Blindgeborenen ein Bild jener großen Masse von Menschen zu sehen, denen nie so etwas wie ein Weg zum ewigen Leben bekannt geworden war: ein Bild der Heiden oder „Nationen”, wie sie in der Sprache der Juden hießen. Und als nun durch den Geist der spontane Auftrag an Jesus erging, diesem Blindgeborenen das Augenlicht zu schenken, da mußte der Herr sich daran erinnern, daß von Ihm geweissagt worden war: „Und nun, spricht Jahwe: Es ist zu gering, daß du mein Knecht seiest, um die Stämme Jakobs und die Bewahrten von Israel zurückzubringen; ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um mein Heil zu sein bis an das Ende der Erde.” - Jes.49:6.

Mit dem Auftrag, den Blindgeborenen zu heilen, sah sich Jesus daran erinnert, nicht allein den Sehenden, jetzt aber Blindgewordenen, den  J u d e n,  das Licht Gottes zu zeigen, sondern es vielmehr auch denen leuchten zu lassen, die niemals des Segens des Sehens teilhaftig geworden waren: den Nationen.

Für Jesus jedenfalls ist jetzt der Blindgeborene ein Symbol der Nationen-Welt, was immer er für Jesu Umgebung sein mochte. Nur unter diesem Gesichtspunkt erhalten die Aussprüche, die der Herr in dieser Erzählung tut, ihr volles, prophetisches Gewicht.

Einmal lautete jetzt die Frage der Jünger für Jesus so viel wie: Ist es wegen einer Verschuldung der Heiden, daß diese nie mit einer Erkenntnis des Weges Gottes gesegnet wurden? Und Jesu Antwort ist dann aus dem Gedanken heraus gegeben: Nein, es gibt keine größere Versündigung der Heidenwelt, (aber es gibt eine größere Verantwortung der Juden). Ihr werdet aber bald sehen, daß der Arm Gottes nicht zu kurz ist, um auch die Heiden mit Seiner Gnade zu erreichen. Wenn Israel einen Vorsprung hat vor den Nationen, so liegt das in Gottes unabänderlichem Heilsplan begründet, hat aber nichts mit einer geringeren Versündigung Israels zu tun.

Gewiß klang Jesu Antwort den Jüngern nicht so; aber warum sollte sie nicht  u n s  heute so klingen, die wir ganz andere Zugänge zu der Geisteswelt Jesu haben? Auch wollte der Herr mit dem, was jetzt alsbald geschehen sollte, von Seiner Umgebung nicht so verstanden werden, wie er selbst jetzt Gott verstand. Die Zeit war noch nicht da, wo die Jünger verstehen sollten, daß Sein Evangelium die Heidenwelt gerade so gut anging wie das Volk Israel. Nicht bevor Israel die Botschaft Jesu unmißverständlich abgelehnt hatte, sollte diese sich an die Nationen wenden. Vorläufig gilt noch die Beschränkung der Evangelisation auf das Volk Israel: „Ich bin nicht gesandt als nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.” (Mt.15:24).

Aber Jesu Bewußtsein Seiner Sendung war umfassender; und wenn Er nun aus ganz spontaner Initiative und unaufgefordert dem „Blindgeborenen” die Augen öffnet, so sollten Ihn zwar die Jünger hierin nicht verstehen, aber für eine spätere Zeit sollte Gottes Absicht mit diesem Wunder doch  b e z e u g t  sein. Aus dieser Erkenntnis heraus, daß Jesus hier eine Auswirkung Seines Evangeliums andeutet, die erst  n a c h  Seinem Tode verstanden werden sollte, sind die eigenartigen Worte zu verstehen, die Er jetzt feierlich verkündet: „Ich muß die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat,  s o l a n g e  e s  T a g  i s t;  es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.  S o  l a n g e  i c h  i n  d e r  W e l t  b i n,  bin ich das Licht der Welt.” Damit wird angedeutet, daß Jesus jetzt symbolisch etwas vorwegnimmt, zu dessen Verständnis erst nach Seinem Tode die Zeit gekommen sein wird.

Nach diesen Worten speit Jesus auf die Erde und bereitet aus Seinem Speichel und der Erde eine Salbe - und streicht diese über des Blinden Augen und sendet ihn, sich zu waschen im Teiche Siolah, was übersetzt „Gesandter” bedeutet. So kommentiert der Evangelist den fremden Namen. „Da ging er hin und wusch sich und kam sehend.”

Die Annahme ist wohl allgemein die, daß die wunderbare Salbe, aus dem Speichel Jesu und der Erde bereitet, die Rolle eines Zaubermittels habe spielen sollen. Doch gibt uns der Text keinen Anlaß zu einer solchen Auffassung. Was hatte die Salbe für eine Bedeutung? Doch offenbar keine andere als die, den Blinden schmutzig zu machen und den Befehl, sich waschen zu gehen im Teiche Siloah, zu begründen.

Durch die Salbe werden dem Blinden die Augen nicht geöffnet, sondern umgekehrt: durch das  A b w a s c h e n  der Salbe wird er sehend. Aber das mußte im Teiche Siloah geschehen. Unmöglich kann die sprachwissenschaftliche Bemerkung, daß Siloah „Gesandter” bedeutet, nebensächlich sein. Sie zeigt uns vielmehr, daß der Name „Siloah” einen geheimen Sinn hat. Bei „Gesandter” denken auch einige Kommentatoren (z.B. Abrecht, die Jubiläumsbibel): daß es eine Anspielung an Jesus sei, daß sich das „Sichwaschen” im Siloah also die „Taufe in Christum” andeuten wolle. Wenn wir beachten, daß der Herr sich drei Verse oben als „Gesandten” vorgestellt hat, so scheint eine solche Beziehung nicht weit gesucht zu sein. Dann verstehen wir aber auch, daß die Heilung des Blindgeborenen ein Ideogramm ist -eine Bilderschrift, für etwas von viel universalerer Wichtigkeit als das, was sich in der gegenwärtigen Wirklichkeit abspielte.

Dargestellt wurde in dem Wunder Jesu die Tatsache, daß die „Blindgeborenen”, (die Nationen), nun das „Licht der Welt” erblicken sollten. Die Verunreinigung des Angesichts (durch die Salbe) ist eine Voraussetzung dafür, daß die darauf gebotene Waschung nötig wird; durch die Waschung aber erfolgt dann die Reinigung und die Heilung. Die „Salbe” gibt zu verstehen: Bevor den Heiden das Licht geschenkt werden kann, müssen sie verstehen, daß sie  u n r e i n  sind in den Augen Gottes: Sünder.

Für Israeliten ist eine andere Maßnahme getroffen; ihnen ist das Gesetz gegeben. Das Gesetz zeigt ihnen den Weg zum Himmlischen Vater und zum Leben. Sie sind nicht ohne Licht; sie stehen in der Wahrheit, wenn sie das Gesetz tun. Aber kein Jude hat das Gesetz erfüllt. Das Gesetz ist ein Weg, aber er ist nicht gangbar. „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.” Ein Israelit, der eine der Zeit angemessene Bewußtseinsreife erlangt hat,  w e i ß,  daß er ein Sünder ist.

Wenn wir von „Bewußtseinsreife” sprechen, möge man aber nicht an so etwas wir Bildungsreife - oder an die Bildung seiner Zeit denken. Hier handelt es sich um etwas ganz anderes: um einen Herzenszustand, den die Niedrigsten und Ungebildetsten des Volkes zwar zuweilen erreicht hatten als Ergebnis eines zweitausendjährigen Bemühens der Nation um den Gesetzesgehorsam, den aber gerade die Wohlhabenden und Gebildeten noch kaum ahnten. (Siehe Lk.18:9-13!) Der Jude war also von Gott nicht in Unkenntnis gelassen worden über seinen Zustand. Er bedurfte grundsätzlich keiner „Salbe”, um sich seiner Unreinheit bewußt zu werden. Aber eine solche „Salbe” benötigte der „Heide.”

Die „Nationen” haben keinen systematischen Erziehungsweg hinter sich. Sie wissen auch ungefähr, was gut und was böse ist, aber sie vergessen es leicht; es ist ihnen nicht durch ein göttliches „Gesetz” während Jahrhunderten eingehämmert worden. Bevor ein Heide den Erlöser annehmen kann, muß er zu einer Erkenntnis seiner Unreinheit gebracht werden; das deutet die Kot-Salbe an. Auch hieraus geht hervor, daß der Blindgeborene die „Nationen” darstellt. Als er geheilt vom Teiche Siloah zurückkommt, findet er Jesus nirgends mehr. Befragt, wo Er sei, antwortet der Geheilte. „Ich weiß es nicht.”

Ist es so selbstverständlich, daß der Herr sich um den Ausgang der Heilung garnicht kümmerte, daß Er die Rückkunft des Geheilten nicht abwartete? Auch dieser Zug weist darauf hin, daß Jesus nicht mehr im Fleisch zugegen sein wird, wenn diese Augen-Öffnung der Heiden stattfinden wird.

Aber hiermit ist der prophetische Charakter unserer Darlegung nicht erschöpft. Was sich jetzt in Abwesenheit Jesu ereignet, ist noch viel mehr eine erstaunliche Parallele zu dem, was die Kirchengeschichte uns über die Rückwirkungen des Siegeszuges des Evangeliums in der Nationenwelt zu berichten weiß. Alle, die den Bettler gekannt haben, sind so überwältigt von dem geschehenen Wunder, daß sie zunächst nicht glauben wollen, daß es sich bei dem Sehendgewordenen um die gleiche Person handle, bis dieser selbst ihnen bejaht: „Ich bin’s”, und den Hergang der Heilung schildert. Darauf führen sie den Geheilten zu den „Fachmännern”, den Pharisäern, den kompletten Hütern der religiösen Konvention. Was werden nun  d i e  dazu sagen!?

Ja, was sagen sie? Zuerst einmal ein gründliches Verhör. Der Geheilte muß seine Geschichte auch ihnen wieder erzählen. Dann: Nichts von Verwunderung! Nichts von Erstaunen, geschweige denn ein Ausdruck der Freude oder Beglückwünschung des wunderbar einem jammervollen Geschick Entrissenen. Erstaunen, Verwunderung, Anerkennung - das gehört nicht zu dem Stil fachmännischer Teilnahmslosigkeit. Das erste, womit sie ihre unverhohlene Verärgerung kundgeben, ist eine jämmerliche Nörgelei, weil da also einer am Sabbathtage ärztlich praktiziert. „Dieser Mensch ist nicht von Gott; er hält den Sabbath nicht!”

Diesem Urteil stimmen jedoch die Umstehenden nicht alle zu. „Es gab Zwiespalt unter ihnen.” Die Hauptsache ist jetzt für die Gegner Jesu, den Geheilten selber gehörig einzuschüchtern, damit er ja nicht zu viel aus dieser Sache macht. „Was sagst  d u  von ihm, weil er deine Augen aufgetan hat?” Der tut ihnen aber nicht den Gefallen, sich um ihres Ärgers willen undankbar zu erzeigen. Die Ärmsten sind immer die Freiesten. Er bekennt mutig: „Er ist ein Prophet! „ Da sind die Autoritäten abgeblitzt. Man läßt die Eltern des Geheilten kommen. Vielleicht gelingt es besser, auf diesem Wege einen Druck auf den vormals Blinden auszuüben, damit er sich seines Retters und seiner Errettung anfange zu schämen - und davon ja keines Aufhebens mache.

Ja, tatsächlich: den „kleinen Leuten” ist es sehr zuwider, vor den Hohen und Mächtigen zu erscheinen. Sie wissen, warum! Es ist ja bereits bekannt, daß man diesen Jesus mit mißgünstigen Augen anblickt, sodaß sein Anhang auf alle Weise bedroht wird - und zwar mit Ausschluß aus der Synagoge für den, der Ihn als den Messias bekennen würde. Das Benehmen der Eltern ist denn auch nicht sehr würdig und tapfer. Sie suchen sich möglichst vor der Sache zu drücken. „Er ist unser Sohn, ja, und er ist blind geboren. Weiter können wir garnichts sagen. Fraget ihn selber, er ist mündig.”

So sind die Herren Inquisitoren wieder auf den Blinden verwiesen. Er wird abermals vorgeladen. Und jetzt fährt man noch gröberes Geschütz auf: „Dieser Mann ist ein Sünder; wir wissen es!” Aber der Verhörte bleibt unerschrocken: „Ob der Mann ein Sünder sei, das ist nicht meine Sache zu beurteilen. Was ich weiß, ist: daß ich blind war und jetzt sehe.” Die Herren sind nicht weitergekommen; sie fühlen allmählich, daß sie sich lächerlich machen mit ihrem Trachten, offenbare  T a t s a c h e n  aus der Welt zu schaffen. Man muß wieder von vorne anfangen: „Was hat er dir getan? Wie hat er deine Augen aufgetan?” Angesichts ihrer Hilflosigkeit wird nun auch der Gefragte immer kecker und höhnischer: „Das habe ich schon wiederholt gesagt. Ich habe nichts Neues zu sagen. Warum interessiert Ihr Euch so sehr für den Mann? Möchtet Ihr etwa seine Jünger werden?” Bei diesen Worten fahren sie wütend über den Geheilten los: „Wir sind Moses’ Jünger, zu dem Gott geredet hat. Woher dieser Mensch ist, das wissen wir nicht.”

Das ist nichts anderes als eine schlimme Lästerung Jesu, nämlich die Verdächtigung, das Er ein Satansdiener sei. Der geheilte Blinde merkt das wohl, aber er ist klug genug, es nicht auszusprechen. In aller Einfachheit bemerkt er nur: „Da ist ein Wunder geschehen, wie von der Ewigkeit her nichts Ähnliches vorgekommen ist, und ihr wisset nichts anderes zu sagen als: Wir wissen nicht, woher der Wundertäter ist? Wenn ihr es nicht wisset, nun:  w i r  wissen es, nämlich, daß Gott nicht einem Sünder die Macht zu solchen Werken verleiht!”

Was für eine jämmerliche Bloßstellung der Maßgebenden und Gelehrten durch diesen schlichten, aber geraden und mutigen Mann! Was bleibt ihnen nach solcher Blamage anderes übrig, als von der Gewalt, die sie verwalten, Gebrauch zu machen und den hinauszuwerfen, der sie so tief beschämt hat!

So kommt es heraus, wenn sich jene, die sich zu Herren - statt Dienern - der Sache Gottes gemacht haben, mit Taten des lebendigen Gottes konfrontiert sehen. Sie sind ihnen nur im Wege, erwecken Mißbehagen, heftige Ablehnung und Feindschaft.



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung