Die Schule der Erfahrung

„O Herr, du meine Stärke und meine Burg, meine Zuflucht in der Zeit der Not! Zu dir werden die Nationen von den Enden der Erde her kommen und sagen: Nichts als Trug haben unsere Väter zum Besitz gehabt, nichtige Götzen, von denen keiner zu helfen vermag!

Kann etwa ein Mensch sich Götter anfertigen? Das sind doch keine Götter! Darum wisset wohl: Diesmal will ich sie zur Erkenntnis führen, will sie meine Hand und meine Stärke (oder Macht) fühlen lassen; dann werden sie erkennen, daß mein Name Jahwe ist“! - Jer. 16:19-21

Wo ist der wahre Christ und das wahre Kind Gottes, das nicht aus vollem Herzen den Worten des Propheten beipflichten kann, die er hier - in der ersten Hälfte unseres Textwortes - zum Ausdruck bringt?

Dieser Teil allein gäbe schon eine Betrachtung für sich. Doch nicht darüber wollen wir sprechen, sondern über den zweiten Teil, der also lautet: „Diesmal will ich sie zur Erkenntnis führen, will sie meine Hand und meine Macht fühlen lassen; dann werden sie erkennen, daß mein Name Jahwe ist.“

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Laßt uns das Fernrohr unseres Geistes in die Vergangenheit zurücklenken und auf  d i e  Zeit einstellen, wo das erste Menschenpaar, Adam und Eva, als Herrscher im Paradies ihre Lebenstage zubrachten. In Freuden und Frieden, in Freiheit und Wohlergehen gingen ihre Tage dahin; sie hatten alles, was die Seele erfrischen und erfreuen konnte - und waren in Verbindung und in Harmonie mit ihrem Schöpfer. Dank, Vertrauen und Wertschätzung erfüllten ihre Herzen. Sie besaßen und wußten, was ihr Himmlischer Vater ihnen geschenkt und anvertraut hatte. Die Erfahrung mit dem Guten hatten sie in reichstem Maße geschmeckt; doch eines war ihnen noch fremd: Die Erfahrung mit dem Bösen und der Sünde die es bis dahin noch nicht gegeben hatte.

Durch Verführung brachte der Widersacher sie unter seinen Einfluß.

In Ungehorsam und Übertretung des göttlichen Gebotes - und durch das Inkrafttreten des Urteils mußten sie von da an auf dem Wege der Erfahrung mit dem Bösen weiterwandern, bis der Tod ihr Leben auslöschte.

Gott ließ es zu; Er wußte, daß nur Erfahrung den Menschen zur Besinnung bringen wird; und daher sind alle Menschen, ohne Ausnahme, durch Adam diesen Weg der Erfahrung des Bösen gegangen - bis auf den heutigen Tag.

Nicht nur, daß das erste Menschenpaar diese Erfahrung mit dem Bösen gemacht hatte; es mußte auch die ausführende Hand und die Macht Gottes kennenlernen. Denn es wurde ihnen auch zur Kenntnis gebracht, daß der Allmächtige nicht nur ein Gott der Liebe und Güte, sondern auch der Wahrheit und Gerechtigkeit ist, der Sein Wort - sei es zur Belohnung oder zur Strafe - auch zur Durchführung bringen wird.

Was ist nun „Erfahrung“? Erfahrung ist nicht eine Sache, die man auf der Schulbank erlernen oder durch Theorie sich erwerben und wie eine Sprache sich aneignen kann. Nein - das ist nicht Erfahrung. Erfahrung ist persönliches Erleben irgendeines Geschehens: sie ist ein Mit-Erleben und ein Mit-Durchleben einer Tatsache; sie ist das Hineingeflochtensein des Menschen in irgendeine Angelegenheit.  E r f a h r u n g  i s t  d i e  S c h u l e   d e s  L e b e n s,  ist Belehrung und Erziehung durch die Tat. Wozu? Um daraus das „Bessermachen“ zu lernen. Erfahrung ist eine sowohl wichtige als auch notwendige Schulung, und die Frucht der Erfahrung wird erst durch die Zeit reif.

Hier ein Beispiel aus der Weltgeschichte, die uns zeigt, was für ein Wert der Erfahrung zukommt: Napoleon der Große, der zu seiner Zeit ein mächtiger und ruhmreicher Feldherr war, wurde durch eine Unerfahrenheit geschlagen, und sein Stern zum Sinken gebracht. Es war die Unerfahrenheit des russischen Winters. Die Härte dieses Winters und der dadurch verursachte Hunger schlugen sein sieggewohntes Heer in die Flucht. Hier sehen wir, wie gewaltig die Erfahrung auf das Geschehen - und auf den Menschen einwirken kann. Unerfahrenheit war es auch, die die französische Königin zur Zeit der Revolution den Ausspruch tun ließ: „Wenn das Volk kein Brot hat, dann sollen sie Kuchen essen.“ Die Unerfahrenheit Hitlers in der Weite des russischen Raumes hat viel dazu beigetragen, daß das Kriegsgeschehen im letzten Kriege einen entscheidenden Umschwung erfuhr.

Warum redete der Pharao von Ägypten mit Mose, dem Beauftragten Gottes, solche stolze und überhebliche Worte? (s. 2.Mos.5:2). Darum - weil er die Macht Gottes noch nicht direkt an sich selbst erfahren hatte. Nachdem er aber, sowie auch ganz Ägypten - die Macht Gottes in den Ereignissen der „zehn Plagen“ erlebt hatte, da wurde sein Herz weich, und er beugte sich der Forderung des Moses und ließ das Volk Israel ziehen.

Der Apostel Paulus, der vor seiner Bekehrung (wie uns die Schrift sagt) ein fanatischer Gegner der ersten Christen-Gemeinden war, mußte zuerst die Macht des Allerhöchsten an sich selbst erfahren. Es war auf dem Wege nach Damaskus, als sich dieses ereignete; und dieses Geschehen erschütterte ihn bis auf den Grund seiner ganzen Persönlichkeit, so - daß er von Stunde an ein furchtloser und treuer Zeuge für das Evangelium ward: eine Grundsäule der ersten Gemeinden, der Kirche, bis zu seinem Märtyrertode.

Warum konnten die Glaubenshelden des Alten Bundes wie auch die der neuen Zeit ihrem Glauben die Treue halten, oftmals unter Dahingabe ihres Lebens? Weil ihr Glaube, ihre Hoffnung, ihr Vertrauen gesammelte Theorie, leeres Wissen, angelernte Form oder äußeres Geschehen war? Nein, und nochmals nein; sondern darum, weil ihr Leben reich geworden war durch tiefstes Erleben ihres Gottes. Abraham, Isaak und Jakob, Henoch, Noah und Hiob, Daniel, Joseph - und wie sie alle heißen: diese alle hatten ihren Gott „erfahren“.

Hat die neu erstandene Nation Israel in den vergangenen Jahrzehnten nicht in hohem Maße die Macht und die Hand des Allmächtigen erfahren? Sind nicht die Worte des Propheten Hesekiel (Kap.20 Vse.32-34)vor unseren Augen in Erfüllung gegangen?  W a n n  diese Erfahrungen Israel auch zur  E i n s i c h t  bringen werden, beantworten - wie wir wissen - die Worte in Röm.11:25: „Denn ich will nicht, Brüder, daß euch dieses Geheimnis unbekannt sei, auf daß ihr nicht euch selbst klug dünket: daß Verstockung Israel zum Teil widerfahren ist,  B I S  die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird.“

Geschahen nun alle diese Erfahrungen in schmerzlicher Art, so wird nach Ablauf des Geschehens die  a n d e r e  S e i t e  der Erfahrung, die des Segnens, der Heilung und des Schutzes für das Volk, einsetzen: „Wie in den Tagen, da du aus dem Lande Ägypten zogest, werde ich es Wunder sehen lassen. Die Nationen werden es sehen - und beschämt werden über all ihre Macht,“ - Micha 7:16.

Sechstausend Jahre Erfahrung mit der Sünde und der geoffenbarten Allmacht Gottes - was wird sie bringen? „Alles Fleisch schweige vor Jahwe“, lesen wir in Sach. 2:13. Tiefe Scham wird sowohl Israel als auch die Völker erschüttern ob ihres Unglaubens und ihrer daraus erwachsenden Torheit. Ihre „Augen“ sind aufgetan worden, und sie werden  w i s s e n,  daß nur Gottes Wille allein das Gute hervorbringt, das „zum ewigen Leben quillt.“ - Micha 7:15 ff.

Erst in dem alsdann aufgerichteten Reich Gottes unter der Herrschaft des Christus kommt die Zeit der persönlichen Prüfung, in der ein jeder für sich selbst stehen und sich bewähren muß, um des ewigen Lebens würdig zu werden. - Hes. Kap. 18.

Die Aufgabe der Christus-Körperschaft - als der Regierung in diesem Reich - ist dann so gewaltig, groß und vielseitig, daß alle Glieder, die würdig erfunden wurden, zur Belehrung, Erziehung und Unterweisung der Menschheit mitzuwirken, schon jetzt in diesem gegenwärtigen Leben auf diese Aufgabe von Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus vorbereitet werden. Nicht durch Theorie, sondern weit mehr durch Erfahrung. Will nun das Kind Gottes seine in der Theorie erworbene Kenntnisse in der Welt ausleben, so wird es gar bald auf Widerstand, Kampf und Feindschaft stoßen; und es wird ihm bald klar werden, daß es gegen eine ganze Welt zu kämpfen hat.

Dieser Glaubenskampf wird ihm viele Trübsale einbringen, die aber nur so weit zugelassen werden, als zu seinem Besten nötig ist, All’ diese Erfahrungen vielfältiger Art sollen seinen Glauben, sein Vertrauen, seine Hoffnung zur Bewährung bringen. In diesen Prüfungen liegt Schulung für das verheißene Amt im kommenden Reich. Darauf weist schon der Apostel hin, wenn er sagt, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken. - Röm.8:28.

Solange das Wort lebendig ist, die Hoffnung und das Vertrauen unserem Himmlischen Vater gilt, soll das Kind Gottes nie vergessen, daß alles das, was es an Erfahrungen durchlebt und durchleidet, vom Allerhöchsten überwaltet wird. Es soll nie vergessen, daß es der Fürsorge des Herrn und der Führung des Geistes gewiß sein darf und daß alles dazu dient, es tüchtig zu machen „zu dem Erbteil der Heiligen im Licht“ - Kol.1:12.

Auch das Kind Gottes wird nicht darum herum kommen zu lernen, daß Erfahrung immer der beste Lehrmeister gewesen ist - und es auch in Zukunft sein wird. Theorie ist etwas, das rasch vergessen wird; persönlich durchlebte Erfahrung aber bleibt. Durch Erfahrungen und durch die Zeit werden die Menschen in der Hand Gottes umgeformt, wie Er es seit jeher vorbedacht hatte.

Wenn nun diese Ausführungen sich insbesondere mit dem Wert der Erfahrungen befassen, so soll das nun nicht heißen, daß Theorie für uns überflüssig oder unnötig ist. Nein - sondern das Gegenteil ist wahr. Ohne Erkenntnis der Belehrungen Gottes wird der Jünger Jesu nicht wissen, wie er sich in den Erfahrungen zu verhalten hat. Also müssen wir uns theoretische Kenntnisse zu eigen machen, und das umso mehr, je mehr wir sehen, wie vergeßlich wir sind - und daß das tägliche Leben in der Welt draußen mit seinem Daseinskampf uns diese Kenntnisse immer wieder fortschwemmen will. Genau so, wie im natürlichen Leben Theorie und Praxis Hand in Hand gehen müssen, genau so ist es auch beim Kind Gottes!

Unser allumfassendes Lehrbuch ist die Heilige Schrift; in ihr finden wir alles, was wir an Belehrung nötig haben. In Vorträgen, Bibelstudien, in der Versammlung - oder allein zu Hause können wir uns die Kenntnis in den vielen theoretischen Fächern aneignen, die uns in der Lebenspraxis und in den Erfahrungen, die wir durchleben und durchlaufen müssen, von Nutzen sind.

Das Wort gibt uns Ratschläge und Richtlinien für unseren Weg, und zeigt uns das rechte Verhalten im Glaubenskampf, zeigt uns Ursache und Wirkung des Weltgeschehens - und offenbart uns, was ein gesetzmäßiger Glaubenskampf ist. (siehe Epheser Kap. 6). Es versieht uns mit aller Erkenntnis, die der Nachfolger Jesu Christi benötigt, um aus allem, was ihm widerfährt, den größten Nutzen und Segen zu ziehen. Das wird sowohl bei dem einzelnen Menschen der Fall sein, als auch bei ganzen Völkern. Im einzelnen haben wir bereits auf Paulus hingewiesen. Aber auch im Lebensbild von Moses wird es uns gezeigt, was Erfahrung vermag.

Moses war in seiner Jugend impulsiv, heißblütig - und schnell bereit,  s e l b s t  zu handeln. Das sehen wir aus der Geschichte, wo er Zeuge von der Mißhandlung eines Volksgenossen durch einen Ägypter war. Sein heißes Blut ging mit ihm durch, und in seinem Zorn erschlägt er den Ägypter. Aber so, wie er damals war, konnte Gott ihn nicht gebrauchen. Was machte Jahwe nun mit ihm? Er schickt ihn vierzig Jahre nach Midian in die Wüste zu einem Priester, um daselbst dessen Herde zu hüten und Erfahrungen zu sammeln. Danach ist Moses ein anderer Mensch. Als Gott ihn zu dem großen Führeramt beruft, weist er es in Bescheidenheit und in Demut zurück; er fühlt sich nicht fähig dazu. „Wer bin ich? Ich bin kein Mann, der reden kann,. Sie werden mir nicht glauben. Sende, wen du willst.“ Alle diese Worte waren es, die Moses anläßlich seiner Prüfung Gott entgegenhielt, wie es in den Kapiteln aus 2. Mos 2 und 3 erzählt wird. Aber der Allmächtige weist seine Bedenken zurück mit der Zusicherung des Beistandes und der Hilfe, mit der nun in der Folge Mose sein Amt und seine Aufgabe hinausfahren kann.

Auch von Petrus wird uns hinsichtlich seiner Umformung durch die Erfahrung gesagt: „Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin  d u  wolltest; wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten, wohin du nicht willst.“ - Joh.21:18.

Und nun ein paar Beispiele: Was sagt der Prophet von den Juden, wenn sie alle schmerzlichen Erfahrungen hinter sich haben werden? „Und ich werde in deiner Mitte ein elendes und armes Volk übriglassen, und sie werden auf den Namen Jahwes vertrauen.“ - Zeph. 3:12.

Auch die Umwandlung in den Herzen der Völker wird uns geschildert, wenn die Erfahrung der Macht Gottes über sie gegangen sein wird. In den letzten Jahrzehnten wurden die Juden von den Nationen harten Herzens verfolgt, verspottet, verflucht, mit Füßen getreten, verbrannt und vergast.  N a c h  der Umwandlung wird sich uns ein völlig anderes Bild zeigen, wie es der Prophet uns beschreibt:

„So spricht Jahwe der Heerscharen: In jenen Tagen, da werden zehn Männer aus allerlei Sprachen der Nationen ergreifen, ja, ergreifen werden sie den Rockzipfel eines jüdischen Mannes und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, daß Gott mit euch ist,“ - Sach.8:23.

Dann heißt es nicht mehr hartherzig und stolz: „Juden heraus“ - oder: „Jude, stirb!“; dann heißt es in aller Demut und Kleinheit: „Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, daß Gott mit euch ist.“ Dies alles wird die direkte Erfahrung der Macht Gottes bewirkt haben.

Nun noch zurück in unsere Zeit. Die Schrift sagt uns, daß das Kind Gottes durch mancherlei Trübsale in das Reich der Himmel eingehen wird. Der Apostel Paulus sagt zu den Römern: „Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale, da wir wissen, daß die Trübsal Ausharren bewirkt, das Ausharren aber Erfahrung, die Erfahrung aber Hoffnung; die Hoffnung aber beschämt nicht - Röm.5:3,4.

Alle Erfahrungen während unseres Erdenlebens sollen uns zeigen, daß die Bemühungen des Menschen in dieser Zeit schlußendlich nichts anderes sind als ein Haschen nach Wind. Wieso? Warum? Weil im Reiche Gottes  a l l e s  neu gemacht wird, wie uns das untrügliche Wort klar uns deutlich sagt. - Off.21:5.

Alle Erfahrungen sind auf das eine Ziel ausgerichtet, den Glauben und das Vertrauen zu heben, zu kräftigen und zu gründen, die Hoffnung aber auf Ewigkeitswerte zu richten, weil diese Hoffnung nicht zuschanden wird. Wer sorgt dafür? Der unveränderliche Gott mit seinem unverbrüchlichen Wort. Und als weiterer Garant steht der Herr dahinter, in dem - durch und durch - alle Verheißungen Ja und Amen sind.

Wenn auch das Kind Gottes in dieser gegenwärtigen Zeit viele Erfahrungen und Leiden durchgehen muß, so soll es doch nie vergessen, daß es ein Ende gibt und daß es eine für uns noch unvorstellbare, herrliche Wende geben wird.

Auf eine tränenreiche Saat wird eine Freudenernte folgen, die alle bisherigen Erdenleiden vergessen läßt. Die bisherige Zeit der Zulassung des Bösen wird ja keinen Vergleich aushalten mit der Herrlichkeit, die darauf folgen wird, wie Paulus uns schon sagt: „Denn ich halte dafür, daß die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll.“ - Röm.8:18.

Wenn nun die Arbeit des Schmelzers an uns vollendet ist und die Form zu einem Gefäß der Ehre sichtbar wird, dann wird der Jünger Jesu die herrliche Erfahrung aus der Hand Gottes und des Herrn entgegennehmen können: Das neue Kleid der Kraft, der Ehre und der Unvergänglichkeit - und IHN, unseren Herrn und unser Haupt „sehen, wie er ist.“ - 1.Joh.3:2.



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung