Der Ausgleich

„Auf daß ich mich nicht durch die Überschwenglichkeit der Offenbarungen überhebe, wurde mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans, auf daß er mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe.“ - 2.Kor.12:7

Wenn wir die Abwicklung der Naturvorgänge und Lebensprozesse betrachten, so erkennen wir überall die Spannung der Gegensätze, die geradezu den Lebensprozeß ausmachen. Da steht die Arbeit mit ihrer Ermüdung gegenüber dem Schlaf mit seiner Erholung; da entsteht Hunger und Durst als Gegensatz zu Essen und Trinken. Selbst im Universum herrscht dieses Gesetz; denn durch die Anziehungskraft der Weltkörper einerseits - die eigentliche Ursache des Gewichts aller Körper - und durch die Fliehkraft andererseits werden die Himmelskörper in ihren ewigen Bahnen gehalten. Würde z.B. der Mond, der die Erde umkreist, seine Schwungkraft verlieren, dann würde er infolge der Anziehungskraft der Erde naturnotwendig und unweigerlich auf unsere Erdkugel stürzen und eine beispiellose Katastrophe auslösen. Hörte dagegen die Anziehungskraft der Erde auf, dann würde er - umgekehrt - seine ewige Bahn verlassen und in den Weltraum geschleudert werden. Wir sehen also, daß der allweise Schöpfer durch die Kräfte der Gegensätze und der Gegengewichte das ganze Universum durch Seine wunderbaren Gesetze im Gleichgewicht - und damit in ihrer Harmonie - erhält. Der Schöpfer beherrscht auf diese Weise alle Galaxien und Sonnensysteme mit ihren Planeten und Trabanten in ihrem Zusammenklang.

Es sollte uns daher nicht wundern, wenn dieser erhabene Gott ein ähnliches Prinzip auch in der sittlichen Welt und in der Erziehung Seiner Kinder anwendete. Durch ein gewisses Spiel der Gegensätze erhält Er Seine Geliebten in der von ihm angebotenen und vorgesehenen Bahn. Falls diese (geistigen) Gegengewichte nicht vorhanden wären, würde sich das sehr zum Schaden der Gotteskinder auswirken. Es wäre vergleichbar mit dem Beispiel des Mondes, der seine Schwungkraft einbüßte.

Unser Textwort zeigt uns deutlich dieses Gesetz der Gegensätze auch in der sittlichen Welt - hier in der Laufbahn des Apostels Paulus: den überschwenglichen Geistes-Offenbarungen steht als Gegengewicht „ein Dorn für das Fleisch“ gegenüber. Durch die beseligenden wunderbaren Offenbarungen einerseits und durch den Dorn für das Fleisch andererseits wird Paulus im Gleichgewicht und in seiner Bahn gehalten. Etwas Ähnliches sehen wir bei Stephanus:

In der Stunde höchster Lebensgefahr, ja - angesichts des Märtyrertodes wird ihm ein trostvolles, ermutigendes Gesicht von der Herrlichkeit des Herrn zur Rechten des Thrones Gottes zuteil. Eine so beseligende Offenbarung, daß sie das Gegengewicht zu dem Furchtbaren darstellte, was ihm eben in diesem Augenblick widerfuhr, und ihn auch im Sterben mit seinem Schicksal mehr als aussöhnen konnte.

Wandeln wir im Geiste, dann dürfen wir hoffen, in ähnlicher Weise durch die Ausgewogenheit der Kräfte und der Gegenkräfte in unserer Bahn (dem Lamme nach) bewahrt und erhalten zu werden - dürfen wir erwarten, daß wohltuende Geistesoffenbarungen uns das Ertragen unvermeidlicher Prüfungen erleichtern und ermöglichen werden. Umgekehrt soll uns ein „Dorn im Fleische“ davor bewahren, daß uns die besonderen Gnadenerweise Gottes und Seine geistigen Erleuchtungen zum Schaden ausschlagen, indem sie uns zu Hochmut und Überheblichkeit verführen.

O, wir sehen dieses Spiel der Kräfte und ihres Ausgleichs tagtäglich in unserem Erleben; laßt uns dankbar dafür sein, auch wenn gar oft für das „Fleisch“ etwas Niederdrückendes darin enthalten ist. Doch lasset uns allezeit im Geiste wandeln, dann werden wir auch immer voller Dankbarkeit sein über die unseren Verstand übersteigende Weisheit und Liebe Gottes!

Der Herr sagt (in Lk.10:18): „Ich schaute den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“ Über jenes Geschehen im Himmel, da der „schirmende und gesalbte Cherub, Luzifer, auf Gottes heiligen Berge zu Seinem Widersacher wurde, sind wir durch eine Vergleichsrede des Propheten Hesekiel über den „König von Tyrus“ unterrichtet. Überhebung und Fall dieses Herrschers waren dem des „schirmenden und gesalbten Cherubs“, Satans, dermaßen ähnlich, daß der Allmächtige in diesem Bilde auch die Geschichte des Falles in Eden durch Prophetenmund beleuchten konnte. Wir finden diese tragische Schilderung in Hes.28:9-11. Unter anderem lesen wir da: „Dein Herz hat sich erhoben wegen deiner Schönheit, du hast deine Weisheit zunichte gemacht wegen deines Glanzes.“ Herrlichkeit und Weisheit wurden Luzifer, dem späteren Satan, zu einem Fallstrick, und dieser herrliche Cherub wurde aus seiner Bahn geworfen. Die Folge davon war, daß er nicht nur eine Anzahl heiliger Engel mit sich riß; auch das werdende Menschengeschlecht sollte in seinen Fall verwickelt werden. Dieser Schaden ist auch heute noch nicht behoben, sondern wird erst am Ende der Wiederherstellung für alle Ewigkeit vollkommen geheilt sein.

Doch der Allmächtige und Allweise weiß selbst die Kräfte und Folgen dieses Umsturzes sich dienstbar zu machen, so daß vom Endergebnis in Ps.76:10 zu lesen ist: „Denn auch der Grimm des Menschen wird dich preisen!“

Nicht nur, daß Gott die Kräfte des Bösen in dieser Welt und in uns selbst, Seinen Kindern, zum mahnenden und bewahrenden „Dorn im Fleische“ gereichen lassen kann - als Ausgleich für herrliche Offenbarungen, die Er uns schenkt, oder als Gelegenheit der Bewährung im Glaubenskampf - nein: auch in ferner Zukunft und in alle Ewigkeit werden die Erfahrungen mit der Sünde und dem Bösen ein Gegengewicht zu bilden haben gegenüber den herrlichen Segnungen des Reiches Gottes. Wenn es in Off.14:11 heißt: „Der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit“, so verstehen wir das so, daß die Menschheit für ewige Zeiten die Erinnerung an die verwüstende Macht des Bösen und der Sünde festhalten werden als Warnungstafel vor Abfall und Ungehorsam. Die Rückerinnerung an die furchtbaren Ereignisse unter der Zulassung des Bösen wird in alle Ewigkeit das Gegengewicht bilden, das im Himmel und auf Erden die Geschöpfe Gottes in Reinheit, Heiligkeit und Vollkommenheit erhält - und bei aller Herrlichkeit vor abermaliger Überheblichkeit bewahrt.

Aber - wir, die wir noch als Nachfolger des Herrn auf der Erde sind und versuchen, auf dem Schmalen Wege das Ziel zu erreichen, können jetzt nur mit dem Auge des Glaubens im Lichte des göttlichen Wortes jene verheißene Herrlichkeit schauen; denn  n o c h  bekommen wir den „Dorn im Fleische“ deutlich zu spüren. Doch seien wir guten Mutes, wenn wir diesen Widerstreit der Kräfte an uns erleben müssen. Sollte uns eine Bürde zu schwer werden, dann haben wir durch Gebet ja Zugang zu dem Thron der Gnade und dürfen den Herrn bitten, daß Er uns das so nötige Gleichgewicht der Kräfte wiederherstelle.

„Damit ich mich nicht überhebe!“ Paulus scheint die geheime Wühlarbeit der Prüfungen in unserem Fleisch zu kennen; er weiß, daß in der Jetztzeit die Gefahr des Abgleitens immer noch besteht. Darum wird er nicht ungeduldig, wenn ihn ein Engel Satans mit Fäusten schlagen darf. Er weiß, das diese Versuchungen, diese Leiden das notwendige Gegengewicht zu den so unaussprechlich herrlichen Offenbarungen darstellen, die ihm zuteil geworden sind; er weiß, daß diese Erprobungen allein ihn auf dem schmalen Pfade der Nachfolge Christi bewahren konnten.

So sollten auch wir bedenken, daß wir in unserer unvollkommenen irdischen Hülle nicht gegen Versuchungen irgendwelcher Art immun sind, daß auch wir in Gefahr wären, uns geistigerweise zu überheben, wenn nicht ein Engel Satans auch uns mit Fäusten schlagen dürfte. Wenn wir von dieser Erkenntnis ausgehen, dürfen wir nur dankbar sein für die uns auferlegten Beschwerden und Hemmungen.

Der Apostel sagt uns in Röm.5:3: „ …wir rühmen uns auch der Trübsale.“ An anderer Stelle aber: „Alle Züchtigung scheint für die Gegenwart nicht ein Gegenstand der Freude, sondern der Traurigkeit zu sein; hernach aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind.“

Dem, der geübt und bewährt ist in der Schule des Herrn, wird dadurch eine solche Kurs-Festigkeit und geistige Schwungkraft zuteil, daß der Himmlische Vater es wagen darf, ihm besondere Vorrechte und Vergünstigungen zuteil werden zu lassen, ohne daß er dadurch in Gefahr käme, aus seiner rechten Bahn geschleudert zu werden, um der Versuchung zu erliegen, eine eigene Bahn einzuschlagen, wie der gefallene „gesalbte und schirmende Cherub“.

In dieser Zeit aber überwiegen bei den Geheiligten Gottes, den Nachfolgern Jesu, die Trübsale und Prüfungen, weil sie ein großes Gegengewicht darstellen  m ü s s e n  gegenüber der Verheißung unaussprechlicher Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll bei der Epiphania unseres Herrn Jesu Christi. „Jeder aber, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist.“ - 1.Joh.3:3.



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung