„Mit welchem Maße ih messet …“
Mt 7: 2

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet; denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maße ihr messet, wird euch gemessen werden. Was aber siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Oder wie wirst du zu deinem Bruder sagen: Erlaube, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und siehe, der Balken ist in deinem Auge? Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen.“ - Mt. 7:1-5

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Richtet nicht! Warum sollen wir nicht richten? Der Zusammenhang gibt es zu verstehen: Es steht uns nicht an, zu richten, weil wir ja selbst alle unvollkommen sind.

Ist es nicht widersinnig, wenn Menschen über einander zu Gericht sitzen, abfällige Kritiken gegen den anderen äußern, Schuldsprüche aussprechen, während wir selber nach unserem ganzen Gehabe den gleichen Fehler begehen würden, wenn wir uns in der gleichen Situation befänden wie der von uns Verurteilte?

Es ist absurd. Aber gerade diesen Widersinn begehen die Menschen in einem fort. Gewiß - es gibt Ausnahmen. Doch zum großen Teil sehen unsere Mitbürger vermöge einer unbegreiflichen Verblendung sehr wohl die Vergehen anderer, aber ihre eigenen verkehrten Neigungen und Anlagen sehen sie nicht.

Gerade das ist es, was auch der Apostel sagt mit den Worten: „Deshalb bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch - jeder, der da richtet; denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst; denn du, der du richtest, tust dasselbe.“ (Röm. 2:1) Es ist eben ein großer Unterschied, ob  i c h  etwas tue, oder ob der andere es tut. Meine Vergehen weiß ich immer trefflich zu begründen, zu beschönigen, zu entschuldigen oder schlankweg fortzuleugnen, zu übersehen; für die „Sünden“ des anderen habe ich ein scharfes Auge.

Das aber ist der Anfang aller Erkenntnis und der Anfang aller Buße: Die Selbsterkenntnis. Über dem Mysterientempel zu Eleusis im alten Griechenland standen die Worte: „Erkenne dich selbst!“ Die Griechen verstanden also sehr wohl, daß die Selbsterkenntnis der Anfang aller Erkenntnis ist. Aber Jesus legt ja dasselbe Gewicht auf Selbsterkenntnis, wenn er sagt: „Ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen.“ - Lk. 6:42

Ohne Selbsterkenntnis, ohne Erkenntnis unserer eigenen Sünde kann es keinen Fortschritt geben. Die eigene Sündhaftigkeit müssen wir zuerst erkennen; und wir müssen wissen, daß es für uns das Dringendste ist, diese zu beseitigen. Wenn wir dann den Kampf wider die eigene Sünde aufgenommen haben, wenn wir seine Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung kennen, dann erst werden wir den anderen nützliche Dienste leisten können, weil wir gelernt haben, Verständnis für sie zu bekommen; wir werden milder urteilen, ja - wir werden garkeine so große Neigung mehr verspüren, unseren Nächsten zu verurteilen.

Hier beginnt die Aufrichtigkeit. Ohne Aufrichtigkeit, ohne Verlangen nach Wahrheit - selbst, wenn diese mir unbequem und ungünstig sein sollte, gibt es keine Segnung, gibt es einmal keine Vergebung. So sagt denn Jesus zu den selbstgerechten Pharisäern, die ihn tadeln, weil er mit Zöllnern und Sündern zu Tische liegt: „Die Gesunden bedürfen nicht eines Arztes, sondern die Kranken; ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße.“ - Lk.5:31

Jesu Predigt legt einen überaus großen Nachdruck gerade auf die Selbsterkenntnis - darauf, daß wir uns selbst richten. So singt auch David: „Du hast keine Lust an Schlachtopfern, sonst gäbe ich sie; an Brandopfern hast du kein Wohlgefallen. Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist: ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.“ - Ps. 51:17

Der urwüchsige, natürliche Mensch mit seinem ungebrochenen wuchtigen Egoismus, seiner naturhaften Verblendung - der mag Menschen imponieren; Gott hat an ihm kein Wohlgefallen. Ein solcher reitet unbarmherzig auf anderen herum, während er für seine eigenen Schwächen oder Fehler alles Verständnis verlangt. Der Allerhöchste will nicht diese Selbstsicherheit, diese „gesunde“ Unbefangenheit und auch Unverfrorenheit. Sie gilt in den Augen des Allmächtigen als Unaufrichtigkeit. Ein solcher Mensch geht unbekümmert um Wahrheit auf seinen eigenen Vorteil aus. Letzterer ist ihm alles, Wahrheit bedeutet ihm nichts. Er ist unaufrichtig, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist. Er müßte eben seine Mängel erkennen, wenn Gerechtigkeit und Liebe in ihm wären.

Wir gewinnen in Gottes Augen, wenn wir anfangen, in unseren Augen zu verlieren. Wir werden gesünder bei Ihm, wenn wir beginnen, unsere Krankheit wahrzunehmen. Wir bekommen erst dann ein sicheres Fundament, wenn wir die Unsicherheit unserer bisherigen Grundlage erkannt haben. „Gebrochene“ Menschen - Menschen mit moralischen Minderwertigkeitsgefühlen - werden in den Augen des Schöpfers wertvoll.

„Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt und dessen Name der-Heilige ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen. Denn ich will nicht ewiglich rechten und nicht auf immerdar ergrimmt sein; denn der Geist würde vor mir verschmachten, und die Seelen, die ich ja gemacht habe.“ - Jes. 57:15,16

Auf welche Weise belebt Gott? Er erteilt Vergebung der Sünde in Jesu Christo dem, der an seine eigene Brust schlägt und nach Vergebung hungert. Aber: „Mit welchem Maß ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.“ Es steht denen, die sich selbst der Sünde und Schwachheit bewußt sind, nicht an, in Strenge über die Schwachheit anderer zu urteilen. Tun sie es dennoch, so beweisen sie, daß sie nicht vor Gott wandeln, daß sie nicht im Glauben stehen, daß über ihnen ein Richter thront, der um ihre Schuld weiß, wie sie um die Schuld des anderen. Er wird sie zur Verantwortung ziehen, wenn sie nicht Vergebung suchen und wenn sie nicht bereit sind, anderen zu vergeben. Denn wenn der Sünder sich nicht selbst erniedrigt, dann muß er von Gott gedemütigt werden, bis er ausruft: „Gnade, Gnade!

Wir dürfen nicht richten - aber wir können auch nicht richten. Es fehlt uns heute noch durchaus an den Eigenschaften und Fähigkeiten, ein gerechtes und wahrhaftiges Gericht auszuüben. Wir richten ja nur nach dem Sehen unserer Augen und nach dem Hören unserer Ohren. Aber der äußere Schein einer Sache trügt. dafür einige Beispiele:

Einer stiehlt aus Not, ein anderer aus Geiz, während ein Dritter den Diebstahl als „Sport“ ansieht. Äußerlich dasselbe Vergehen, aber dreimal verschieden zu beurteilen. Auch das Nicht-Sündigen geschieht aus sehr verschiedenen Beweggründen: Der eine nimmt nichts, was ihm nicht zusteht, und zwar aus der inneren Überzeugung heraus, daß es unrecht und unanständig ist, sich fremdes Gut anzueignen. Ein anderer möchte schon, aber er ist zu furchtsam zum Sündigen. Und ein dritter stiehlt nicht, weil es sich nicht lohnt; es müßte dann schon Wertvolleres sein.

So ist es mit allen Sünden. Sie sind sehr verschieden zu werten. Die  i r d i s c h e n  Richter nun halten sich im großen und ganzen an den äußeren Schein. Auch, wenn sie die Beweggründe aufzudecken suchen - in das Innere des Angeklagten können sie nicht blicken, zumal oft falsche Zeugenaussagen zu falschen Indizien führen. So wird die  T a t  gewogen, und nicht das Herz. G o t t  aber sieht das  H e r z  an.

Vom rechten Richter lesen wir in Jes. 11:3: „Er wird nicht richten nach dem Sehen seiner Augen und nicht Recht sprechen nach dem Hören seiner Ohren; er wird die Geringen richten in Gerechtigkeit und den Demütigen des Landes Recht sprechen in Geradheit.“

Wie muß nun die Voraussetzung beschaffen sein für ein gerechtes Richten? Einmal müssen - wie wir gesehen haben - dem Richter alle Tatsachen, die mit der Freveltat zusammenhängen, genau bekannt sein. Der Richter muß die Umstände exakt kennen, die zur Tat geführt haben. Sodann aber muß der Richter eine vollkommene Kenntnis des Gesetzes haben. Für uns will das sagen: Wir müssen den Willen Gottes in Wahrheit verstehen - wir müßten einen reinen Begriff des Vollkommenen haben. Endlich aber muß der rechte Richter auch die Fähigkeit besitzen, diesem vollkommenen göttlichen Willen oder Gesetz selbst einwandfrei Genüge zu tun. Denn darin darf er ja den anderen nicht richten, worin er selbst schuldig ist.

Diesen Bedingungen kann kein Mensch genügen; aber Jesus Christus, der Vollkommene,  w i r d  diesen entsprechen. Er genügt diesen Voraussetzungen gerade deswegen, w e i l  er an Fleisch und Blut teilgenommen hat; weil er die Umstände wohl kennt, unter denen der Mensch steht - der sterbende, leidende Mensch. Und dereinst wird auch die wahre Kirche Christi diesen Bedingungen entsprechen, wenn sie verherrlicht und in Kraft sein wird. Das ist ja eben einer der Gründe dafür, warum Gott eine Herauswahl aus dem gefallenen und erniedrigten Menschengeschlecht gesucht hat, damit der Richter der Welt Verständnis für den zu Richtenden haben möchte.

„Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern einen, der in allem versucht worden ist wie wir, ausgenommen die Sünde.“ (Hebr. 4:15) Auch der irdische Hohepriester aus dem Hause Aaron wurde ja bestellt als „einer, der Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden, da auch er selbst mit Schwachheit umgeben ist.“ - Hebr. 5:2,3

Aus dem allem ergibt sich, daß die Kirche Christi nicht zu einem strengen und harten Richter erzogen werden soll, wohl aber zu einem verständnisvollen und barmherzigen. Darum werden die Auserwählten von Gott ja nicht vorzugsweise in  d e n  Kreisen gesucht, die vom Wohlstand begünstigt sind und entsprechende Privilegien genießen, die anderen vorenthalten bleiben. Verständnis, Barmherzigkeit und Mitleiden lernt sich besser in den Tiefen menschlicher Lebensumstände. Aber die Kirche soll ja Kenntnis gewinnen von allen Sparten menschlicher Schwachheiten und Sünde, so daß sie sagen kann: Nichts Menschliches ist mir fremd und unverständlich - ausgenommen die Bosheit. (Diese darf uns immer unverständlich bleiben).

Aber nicht darauf kommt es an, daß wir uns sittlich entsetzen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn wir Leichtsinn, Roheit, Ausschweifung, Laster, Streitsucht, Genußsucht und üble Gewohnheiten wahrnehmen, wie zum Beispiel vieles Trinken und unsauberes Reden. Es ist klar, daß wir uns abgestoßen fühlen; aber zugleich sollen wir doch auch Kenntnis nehmen vom wirklichen Zustand, in dem sich ein großer Teil, vielleicht der größere der Menschen, befindet. Und wir sollen zugleich auch lernen, daß Roheit möglicherweise nur das Äußere ausmacht - nur die Schale. In einem unerzogenen, rüpelhaften Menschen kann dennoch ein guter Kern stecken. Es ist nicht so leicht zu bestimmen, ob eine verwerfliche Gesinnung oder nur ungünstige Erziehungseinflüsse das Abstoßende in dem Gegenüber hervorgebracht haben, den wir vor uns sehen. Darum spricht der Prophet Jeremia:

„Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verderbt ist es; wer mag es kennen?“, um dann zu antworten: „Ich, Jahwe, erforsche das Herz und prüfe die Nieren, und zwar, um einem jeden zu geben nach seinen Wegen, nach der Frucht seiner Handlungen.“ (Jer. 17:9,10) Und wiederum: „Mein ist die Rache,  i c h  will vergelten, spricht der Herr.“ - Röm. 12:19

Somit kann es nicht Sache des Menschen sein, den wahren moralischen Kern seines Nächsten bestimmen zu wollen. Das hat der Allerhöchste sich selbst vorbehalten. Und dazu hat er seinen erhabenen Plan des Gerichts entworfen, wonach die  G l ä u b i g e n  dieses jetzigen Zeitalters in  d i e s e m  Leben im Gericht stehen, die Welt aber erst im Millenniumszeitalter gerichtet wird. - s. Apg. 17:30,31 Also - ganze Zeitalter hat Gott vorgesehen, um das Beweisverfahren durchzuführen, und  w i r  wollen oft aufgrund einer kurzsichtigen Betrachtung über Mitmenschen urteilen! Eines aber muß uns diese Betrachtung von Gottes Gerichtsplan lehren: Es kann nicht unsere Aufgabe sein, in diesem Zeitalter die Welt zu bekehren, sie auf ihre Sünden und Verfehlungen aufmerksam zu machen, gegen jedes Unrecht, das wir ansehen müssen, zu protestieren, jede Verkehrtheit und Ungeschicklichkeit den Mitmenschen vor Augen zu halten - mit einem Wort: den Zeitgenossen nach Noten zu schulmeistern. Wenn wir dies als unsere Pflicht betrachten, dann würden wir unserer ungläubigen Umgebung entsetzlich zur Last fallen, ohne ihr doch im geringsten mit unseren „Belehrungen“ helfen zu können.

Es nutzt ja nichts, daß man jenen ihre Fehler und Mängel vorhält, die sich nun doch einmal nicht aus sich selbst heraus von diesen Gebrechen befreien können. Diese Erkenntnis wird uns zeigen, daß wir in dieser Zeit die Menschen im großen und ganzen gewähren lassen müssen. Wir haben keine Erzieherpflicht an ihnen auszuüben, und - soweit nicht sie selbst uns darum bitten - auch kein Erzieherrecht ihnen gegenüber. Heute können wir nur unsere eigenen Kinder zu erziehen versuchen - oder die uns zur Erziehung Anvertrauten.

Alles, was wir zu tun haben, ist, daß wir die Menschen über den Willen Gottes aufklären, indem wir das Evangelium verkündigen: „Nachdem nun Gott die Zeiten der Unwissenheit übersehen hat, gebietet er jetzt den Menschen, daß sie allenthalben Buße tun sollen, weil er einen Tag gesetzt hat, an welchem  e r  den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat.“ (Apg. 17:3) Und so hat ja auch Jesus bei seinem ersten Kommen nichts anderes tun wollen. In Joh. 12:47 spricht er: „Wenn jemand meine Worte hört und nicht beobachtet,  s o  r i c h t e  i c h  i h n  n i c h t,  denn ich bin (jetzt) nicht gekommen, auf daß ich die Welt richte, sondern auf daß ich die Welt errette. Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, hat den, der ihn richtet: Das Wort, das ich geredet habe, wird ihn richten am letzten Tage.“

Wenn Jesus niemanden richtet, wie sollten wir, seine Berufenen, denn befugt sein, die Welt zu richten? Das Wort, das Jesus geredet hat, wird sie richten. Dieses Wort reden auch wir. Aber es ist nicht unser Wort - und also auch nicht unser Gericht, sondern es ist Gottes Wort und Gottes Gericht. Wenn sie dieses „Wort“ unbeobachtet lassen, so haben sie den, der sie richtet. D.h.: Sie gehen dann um dieses Wort, um den geoffenbarten Willen Gottes, herum - sie gehen auf die „breite Straße“, die ins Verderben führt. Und sie werden eines Tages erkennen, daß die Verantwortung dafür sie selbst trifft. Nicht bußfertigen Menschen gegenüber bleibt uns nichts anderes übrig als Duldsamkeit.

Den Gliedern der Berufenen, der Kirche gegenüber sollte freilich ein anderes Verhalten möglich sein. Innerhalb der Familie Gottes ist Ermahnung und liebevolle Zurechtweisung möglich - und auch Pflicht. Immerhin können wir auch da nur so weit gehen, als der Bruder, die Schwester in Christo es uns zugestehen wollen. Gegenüber einem Nicht-Wollenden hört die Möglichkeit der Zurechtbringung auf. Wir haben ja keine Gewaltmittel anzuwenden zum Vollzug des göttlichen Willens. Wir sind auf die Mitwirkung des Geistes der Gnade und Buße bei den Geschwistern angewiesen. Aber auch, wenn wir diesen Geist nicht bemerken, dürfen wir nicht richten. Es ist nicht immer das Recht auf unserer Seite, wenn wir einen anderen glauben ermahnen zu müssen.

Darum sagt der Apostel Jakobus: „Redet nichts Böses von einander, liebe Brüder! Wer einem Bruder Böses nachsagt oder seinen Bruder richtet, der redet wider das Gesetz und richtet das Gesetz. Wenn du aber das Gesetz richtest, so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern machst dich zum Richter. Nur einer ist Gesetzgeber und Richter, er, der zu erretten und zu verderben vermag. Wer aber bist du, daß du dich zum Richter deines Nächsten machst?“ - Jak. 4:11,12

Wer richtet, ist aus der Gnade gefallen. Das heißt: Wer vergißt, daß auch er selbst von der Gnade lebt, hat keinen Anlaß zur Strenge gegen andere. Das veranschaulicht uns das Gleichnis vom „bösen Knecht“, dem sein Herr ein großes Darlehen, das er nicht zurückzahlen konnte, erließ. Jener Knecht aber ging hin und brachte seinen eigenen Schuldner, der ihm nur eine kleine Summe rückständig geblieben war, unbarmherzig ins Gefängnis. (Vgl. Mt. 18:21-35) Unmöglich kann Gott dem Gnade erweisen, der selbst nicht bereit wäre, seinen eigenen Schuldnern zu vergeben. So laßt uns denn acht haben auf den Balken im eigenen Auge - und nicht auf den Splitter im Auge meines Bruders!

Warum aber steht da vom „Balken“ im eigenen Auge? Könnte es nicht auch einmal umgekehrt sein? Könnte es nicht sein, daß ich einen Splitter im Auge habe, und der Bruder einen Balken?

Nein! Jesus will mit diesem Gleichnis sagen, daß in Gottes Augen keiner so schlimm dastehen könnte als eben der Richtende. Bei jenem ist auf jeden Fall Verblendung und unerträglicher Hochmut vorhanden, und der ist vor Gott ein Greuel.

Wie viel immer an einem Bruder auszusetzen sein mag, so ist jener doch in jedem Falle weniger verblendet als der, welcher sich zum Richter über ihn aufspielt. Darum ist seine Schuld immer nur ein „Splitter“ im Vergleich zu der Schuld des selbstgerechten Richters.

N i c h t  richten will aber nicht sagen, daß wir das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche, daß wir Recht und Unrecht bei anderen Menschen (oder Geschwistern) Überhaupt nicht sollten zu unterscheiden versuchen. Das wäre gewissermaßen ein Widerspruch. Denn wenn wir doch dadurch, daß wir uns bemühen, und selbst nach dem Maßstab des Wortes Gottes auszurichten, „geübte Sinne zur Unterscheidung des Guten und des Bösen“ erlangen sollen, so können wir auf der anderen Seite nicht blind und urteilslos bleiben. Der Herr will uns nicht immer reifer im Urteil werden lassen, immer empfindlicher für das Ungehörige und Böse, um dann andererseits von uns zu fordern, diese Urteilskraft lahmzulegen, sie nicht zu verwenden und uns gewissermaßen unempfindsamer zu stellen, als wir sind.

Es ist ja nötig, daß wir ein geschärftes Auge erhalten für gut und böse, verkehrt und richtig. Andererseits aber sollen wir ein mildes uns verzeihendes Urteil haben für alle diese Mängel, und sie der allgemeinen Unvollkommenheit der menschlichen Natur des gefallenen Menschen zur Last legen. Wir sollten uns nicht so gewaltig über die Menschen entsetzen, an denen diese Dinge in Erscheinung treten. Vergessen wir nie, daß der Allmächtige noch viel mehr sieht, als wir sehen, und daß er nichtsdestotrotz alle in seine Begnadigung in Jesu Christo eingeschlossen hat. Und: „Er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

Und so sollten wir es auch halten und sollten allen Menschen zu dienen suchen, ohne ihnen unseren Willen und unsere Meinungen aufdrängen zu wollen, damit wir Söhne unseres Vaters seien, der in den Himmeln ist. s. Mt. 5:45



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung