„Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat.“ - Jesaja 42:1

Der Prophet Jesaja berichtet im zweiten Teil seines Buches (das ganze Kapitel 40) von einem Gottesknecht, in dem wir unschwer den Gesalbten des Herrn,  d e n  C h r i s t u s,  erkennen können. Es handelt sich hier nicht nur um Jesus, das Haupt, sondern auch um die Herauswahl, die seinen Leib bildet und sein Werk als Gemeinschaft fortzusetzen hat. Sie sollen fortzeugen von dem allein wahren Gott, der durch seinen Sohn Jesus der Welt kundgetan worden ist als „Gnade und Wahrheit“ (s. Joh. 1:17), während das Volk Israel ihn nur als die „Gerechtigkeit“ und den gestrengen Richter aller Gesetzesübertretung kennengelernt hatte.

„Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat: Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt; er wird den  N a t i o n e n  das Recht kundtun.“ (Jes. 42:1) Der Herr war „nicht gesandt, als nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt. 15:24); dieser „Knecht“ aber soll den Nationen das Recht kundtun; er ist auch zu ihnen gesandt. Erst die Kirche, erst  d e r  Christus erfüllt diesen Teil des Auftrages, der dem „Knecht Jahwes“ hier erteilt wird.

So können wir in den Beschreibungen dieses Knechtes, die uns Jesaja vermittelt, eine solche der Kirche, des Leibes Christi, erblicken. Wir möchten hier namentlich das 49. Kapitel Jesajas unter diesem Gesichtswinkel betrachten, um daraus Belehrungen zu gewinnen über das Wesen und die Rolle der wahren Kirche Christi, der geistgesalbten Gemeinde und beauftragten Dienerin Gottes auf Erden.

„Höret auf mich, ihr Inseln, und merket auf, ihr Völkerschaften in der Ferne!“ (Jes. 49:1) Aus dieser Anrede geht hervor, daß das Gotteswort, das nun gesprochen werden soll,  n i c h t  zum Volke Israel nach dem Fleische gesprochen wird, sondern zu einem ferneren Menschenkreis. Die „Inseln“ sind die des Mittelmeeres, namentlich Griechenland, aber auch Italien, Sizilien und die ganze westliche Welt bezeichnend. Und noch umfassender ist der Ausdruck: „Ihr Nationen in der Ferne“, in den die ganze noch unbekannte Welt eingeschlossen ist.

„Jahwe hat mich berufen von Mutterleibe an, hat von meiner Mutter Schoße an meines Namens Erwähnung getan.“ - Vs. 1b

Hier spricht die  b e r u f e n e  Gemeinde; es sprechen die, die im Plane Gottes vorgesehen waren vor Grundlegung der Welt, auserwählt zu einem besonderen Dienst im Werke des Allmächtigen - und zu einer besonderen Ehre und Herrlichkeit (Eph. 1:4), auserwählt „zur Sohnschaft durch Jesum Christum für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens und zum Preise seiner Herrlichkeit.“ - Vse. 5 und 6.

Diese herausgerufene Gemeinde kommt nicht in ihrem eigenen Namen, nicht nach eigenwilliger Bestimmung; sie folgt - dem Rufe Gottes. Aber weil sie Ihm glaubt und weil sie mit einer Erkenntnis des Höchsten gesegnet und „gesalbt“ ist, so ist für sie der Ruf des Allmächtigen auch zugleich Nötigung. Der Auftrag Gottes ist Ehre, aber er ist auch Last, eine verantwortungsvolle Aufgabe; er verlangt Selbstverleugnung, Gehorsam, Treue, Entsagung. „Also nun, jeder von euch, der nicht allem entsagt, was er hat, kann nicht mein Jünger sein“, erklärt Jesus in Lk. 14:33

Der Ruf Gottes bringt Verpflichtung mit sich, Verantwortlichkeit gegenüber dem eigenen Heil. So steht der Berufene gewissermaßen unter einem Zwang. Er kann sich dem Ruf nicht entziehen; aber sein Glaube, seine Liebe, sein Verantwortungsgefühl erlaubt ihm doch wieder nicht, das unschätzbare Gut des Erstgeburtsrechtes um das elende Linsengericht zeitlicher Vorteile dahinzugeben - gleich einem Esau. So ist das Wort des Paulus zu verstehen: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte!“ Und: „Wenn ich das Evangelium verkündige, so habe ich keinen Ruhm, denn eine  N o t w e n d i g k e i t  liegt mir auf.“ (l. Kor. 9:16) Darum beneidet die Welt ja im allgemeinen die Propheten und die Berufenen Gottes garnicht um ihren Auftrag; sie ärgert sich nur an ihnen.

„Und er machte meinen Mund wie ein scharfes Schwert, hat mich versteckt in dem Schatten seiner Hand; und er machte mich zu einem geglätteten Pfeile, hat mich verborgen in seinem Köcher.“ - Vs. 2

Weil dieser Knecht  d a s  W o r t  G o t t e s  spricht, das in seiner Wirkung einem scharfen, zweischneidigen Schwert entspricht (Hebr. 4:12), so geht eine unermeßliche Wirkung von ihm aus - eine Wirkung, der sich niemand entziehen kann, die Herzen sondiert und die Richtung der Menschen festlegt: ob zu Gott, oder von Gott weg! Aber gleichzeitig ist diese Wirkung verborgen, der Welt nicht faßbar und unkontrollierbar. Daher: „Er hat mich verborgen in seinem Köcher“, „Er hat mich versteckt im Schatten seiner Hand.“ Die Wirkung der Kirche ist eine verborgene, und die betreffenden Personen, also die Träger dieser Wirkung, sind ebenfalls verborgen. Inwiefern? Nun - die Kirche hat kein Ansehen vor der Welt; unbedeutende, in jeder Hinsicht durchschnittliche Leute bilden die Berufenen dieses Evangeliumszeitalters: „Das, was (weltlich gesehen) nichts ist, hat Gott auserwählt.“ Das glaubt die Welt nicht, weswegen sie die Kirche überall sucht, nur dort nicht, wo sie zu finden wäre. Sie geht versteckt einher. Das dient aber auch zu ihrem Schutz. Der Himmlische Vater hält in Seiner Weise Seine Hand über ihr. Merkwürdigerweise ist sie dennoch wirksam - ein scharfes Schwert, ein geglätteter Pfeil, der richtig läuft und mitten ins Ziel trifft.

„Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, bist Israel, an dem ich mich verherrlichen werde.“ Diese Verherrlichung gehört ganz der Zukunft; sie wird nicht eintreten vor der „Offenbarung der Söhne Gottes.“ - Röm. 8:19; Kol. 3:4

„Ich aber sprach: Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt.“ - Vse 3, 4a

Unter dem Eindruck ihrer Wirkungslosigkeit steht die Kirche oftmals selbst. Wie sollte es anders sein können? Sie hat ja die Welt nicht zu bekehren, sie hat nur das Licht leuchten zu lassen, die Wahrheit zu verkündigen und zu  v e r t r e t e n.  Sache der Wahrheit ist es, zu erobern und zu gewinnen. Nicht der mindeste Zwang, nicht die mindeste Nötigung soll der Träger der Wahrheit anwenden: Keine Drohung mit Verdammnis, keine Werturteile hat sie auszusprechen, keine einschüchternden Predigten zu halten, keinen Zorn des Allmächtigen den Nichtglaubenden in Aussicht zu stellen. Eine solche Verkündigung wirkt (anscheinend) schwach auf die Massen. Wer Massenbewegungen auslösen will, der muß die geistigen Waffen der Einschüchterung und Gerichandrohung handhaben. Jesus hat aber auch nicht so geredet: „Wollt ihr etwa auch weggehen?“, fragt er seine Jünger. Nicht einmal seinem Verräter, Judas gegenüber, gebraucht er irgend eine Androhung. So etwas ist ja auch ganz sinnlos: Seine Gnade und die höchsten Vorrechte will der Allerhöchste niemandem aufdrängen. „Doch mein Recht ist bei Jahwe, und mein Lohn bei meinem Gott.“ - Vs. 4b

Trotz des scheinbar so geringen Erfolges ist sich die Kirche Christi bewußt, daß ihre Anstrengung bei Gott nicht unterschätzt wird, daß er nicht nach menschlichem Maß ihr Wirken messen und beurteilen wird.

„Und nun spricht Jahwe, der mich von Mutterleibe an zu seinem Knechte gebildet hat, um  J a k o b  zu ihm zurückzubringen - und Israel ist nicht gesammelt worden; aber ich bin geehrt in den Augen Jahwes, und mein Gott ist meine Stärke geworden - ja, er spricht: Es ist zu gering, daß du mein Knecht seiest, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen; ich habe dich auch zum Lichte der Nationen gesetzt, um mein Heil zu sein bis an das Ende der Erde.“ - Vse. 5,6

Hier erfahren wir etwas ganz Neues von der Ekklesia. Ganz deutlich wird einmal, daß „Israel“ hier in einem Doppelsinn verwendet wird: daß es zum einen das abtrünnige fleischliche Bundesvolk Gottes bezeichnet, und sodann aber ein Name für das wahre „Israel“ ist, worunter wir nur das gegenbildliche Bundesvolk Gottes, die Kirche des Evangeliumszeitalters, verstehen können. Dieser „Knecht“ ist also gebildet worden zu dem Zweck, „Jakob zurückzubringen“ oder „die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen.“

Auch an anderer Stelle der Bibel wird uns gesagt, daß der Schöpfer beabsichtigt, sein ungetreues Volk dadurch zur Eifersucht zu reizen, daß er den Segen der Erstgeburt auf ein anderes Volk übertragen und diesem alle Vorrechte zuwenden werde, die einst Israel zugedacht waren. Nicht allein zu strafen, vielmehr, um zu bewirken, daß es wieder danach trachten möchte, in die Stellung der göttlichen Gunst zurückversetzt zu werden.

Aus  L i e b e  zu seinem ungetreuen Erwählungsvolk wollte Gott so handeln. Wir lesen schon im Liede Moses: „Sie haben mich zur Eifersucht gereizt durch Nicht-Götter, haben mich erbittert durch ihre Nichtigkeiten; so will auch ich sie zur Eifersucht reizen durch ein Nichtvolk, durch eine törichte Nation will ich sie erbittern.“ (5. Mos. 32:21) Der Apostel Paulus weist auf diese Schriftstelle hin in Röm. 10:19, und er fährt fort mit Jes. 65:1: „Ich bin gefunden worden von denen, die mich nicht suchten, ich bin offenbar geworden denen, die nicht nach mir fragten“, womit er auf die Übertragung der Gnade und der Segnungen Gottes auf die Herauswahl aus den Nationen anspielt.

So sehen wir also, was einer der Zwecke des Ewigen mit der Kirche war: er wollte auf diese Weise sein Volk zurückgewinnen. Hätten die Juden nicht wirklich stutzig werden müssen, als sie erfuhren, daß nun die Nationen ihren Bundesgott Jahwe ehrten, daß sie in ihm frohlockten und sich die Verheißungen aneigneten, in denen sich einst die Israeliten gefreut hatten?

Hätten sie nicht aufhorchen müssen, als der Gott Israels über die ganze Welt hinaus als der allein wahre Gott gepredigt wurde; als ein  g e m i s c h t e s  N i c h t  -  V o l k  aus allen Nationen die Väter Israels als seine geistigen Väter adoptierte: Abraham, Isaak und Jakob; als die Schriften des Alten Testaments als heilige Gottesoffenbarung von diesen Fremden anerkannt - als Moses und das Gesetz und die Propheten von diesem Nicht-Volk als Heilige Schrift und göttliche Belehrung angenommen wurden? Hätten diese sonderbaren Erscheinungen Israel nicht befremden müssen?

„Die Nationen schmücken sich mit unseren national-eigenen Geistesgütern“, (so sollten die Juden sprechen), „und uns, das Bundesvolk, schiebt man als unbeteiligt an diesen geistigen Segnungen beiseite.“ Jedenfalls hat es der Apostel Paulus als seine Aufgabe angesehen, diese Eifersucht in Israel zu erregen. Sagte er doch: „Insofern ich nun der Nationen Apostel bin, ehre ich meinen Dienst, ob ich auf irgendeine Weise sie, die mein Fleisch sind, zur Eifersucht reizen und etliche aus ihnen erretten möge.“ - Röm. 11:13,14

Diese Wirkung hervorzubringen, war die Absicht des Höchsten mit der Berufung  d e r  Kirche Christi. Er wollte Israel auch jetzt noch nicht aufgeben. Paulus verbindet die angeführten Ausführungen mit der Schriftstelle: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volke“ (Jes. 65:2; Röm. 10:21), damit andeutend, daß auch während des ganzen Evangeliumszeitalters Gott nicht aufgehört hat, einen werbenden Einfluß auf Israel auszuüben und ihm einen Anreiz zur Buße zu geben.

Aber „Israel ist nicht gesammelt worden“, muß der Gottesknecht trauernd feststellen. In dem ungläubigen Volk ist die Eifersucht nicht erwacht, sind die Bedenken nicht aufgestiegen, die der so auffällige Wechsel in der Verfahrensweise des Schöpfers mit ihm hätte wecken müssen. Es bleibt stumpf. Gottes Absicht mit der Kirche ist in dieser Hinsicht nicht erreicht worden - wie er es gewiß vorausgesehen hatte. Israel ist indessen zu einem Bild der Verstockung geworden.

Dieser Mißerfolg gereichte der Kirche nicht zur Unehre oder zum Vorwurf: „Aber ich bin geehrt in den Augen Jahwes, und mein Gott ist meine Stärke geworden.“ Denn diese Kirche hat gleichzeitig einen anderen Zweck zu erfüllen: Sie ist zum „Licht der Nationen gesetzt, um Gottes Heil zu sein bis an das Ende der Erde.“ Und dieser Zweck der Kirche ist erfüllt worden. Sie hat den Namen des lebendigen Gottes und die Erlösung in Jesu Christo verkündigt allen Nationen, Zungen und Sprachen. Sie wurde das „Licht der Welt“ und „das Salz der Erde.“

„So spricht Jahwe, der Erlöser Israels, sein Heiliger, zu dem von jedermann Verachteten, zu dem Abscheu der Nation, zu dem Knechte der Herrscher: Könige werden es sehen und aufstehen, Fürsten, und sie werden sich niederwerfen um Jahwes willen, der treu ist, des Heiligen Israels, der dich erwählt hat.“ - Vse. 7,8

Da erfahren wir von diesem Gottesknecht, daß er der „von jedermann Verachtete“ ist in diesem ganzen Zeitalter. Aber dieser Verachtung steht die allgemeine Ehrung in der Zukunft gegenüber. Die Könige und Fürsten werden ihn mit Unterwürfigkeit ehren, aber „um Jahwes willen“, weil dieses Gottes Wille ist; und weil der Ewige ihn durch diese Ehre entschädigen will für die Verachtung, die ihm in dieser ganzen Evangeliumszeit hier zuteil geworden ist.

Was für eine Verachtung? Sind sie denn nicht die Repräsentanten der Kirche von den Geehrtesten und Einflußreichsten in unserem christlichen Zeitalter gewesen - und sind es noch bis zum heutigen Tage? Ohne Zweifel; und einige von ihnen nahmen Fürstenrang ein und gehörten zu den Spitzen der menschlichen Gesellschaft. Können sie aber der hier geschilderte Gottesknecht sein? Keineswegs; denn ihre Charakteristik steht zu der im Worte Gottes gegebenen in direktem Gegensatz.

Der „Knecht“, von dem die Schrift redet, ist  v e r a c h t e t,  ja, er ist verabscheut, und er ist „der Knecht der Herrscher“, d.h. er hat hier auf Erden in keiner Hinsicht eine Herrenrolle zu spielen. Er hat sich den obrigkeitlichen Mächten gegenüber untertänig und fügsam zu verhalten. Somit ist eine herrschende Kirche nicht die Kirche Christi; eine Kirche, die Macht entfaltet und Gewalt ausübt, kann nicht der hier geschilderte „Knecht der Herrscher“ sein.

„So spricht Jahwe: Zur Zeit der Annehmung habe ich dich erhört, und am Tage des Heils habe ich dir geholfen. Und ich werde dich behüten und dich setzen zum Bunde des Volkes, um das Land aufzurichten, um die verwüsteten Erbteile auszuteilen, um den Gefangenen zu sagen: Gehet hinaus! Zu denen, die in Finsternis sind: Kommet ans Licht! Sie werden an den Wegen weiden, und auf allen kahlen Höhen wird ihre Weide sein; sie werden nicht hungern und nicht dürsten, und weder Kimmung noch Sonne werden sie treffen. Denn ihr Erbarmer wird sie führen und wird sie leiten an Wasserquellen.“ Vse. 8-10

Paulus zitiert die erste Hälfte des 8. Verses und fügt in 2. Kor. 6:2 hinzu: „Siehe,  j e t z t  ist die wohlangenehme Zeit,  j e t z t  ist der Tag des Heils!“, womit er unsere Auslegung und Deutung des Gottesknechtes auf die Kirche des Evangeliumszeitalters bestätigt.

Die Übersetzung „Zeit der Annehmung“ enthält deutlich den Gedanken, daß von jener Epoche, da die Glieder der Kirche berufen werden können, unter den „Zeitverwaltungen Gottes“ die Rede ist. Weder vor noch nach dem Zeitalter des Evangeliums gibt es eine Gelegenheit, von Christus als ein Glied Seines Leibes, der Kirche, angenommen zu werden.

Diese Berufung versetzt den Gläubigen in eine in jeder Beziehung außergewöhnliche Lage in dieser Welt: „Ihr seid  i n  der Welt, aber nicht  v o n  der Welt.“ Er rechnet sich nicht mehr zu der Welt, in der er doch lebt und leben muß, deren Bedingungen er doch unterworfen ist als physischer Teil von ihr. Diese Lage ist - menschlich betrachtet - nicht nur eine schwierige, sondern vielmehr eine unmögliche. Jesus sagt nicht umsonst: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (oder: ausrichten). Ohne den besonderen Schutz und die Überwaltung Gottes kämen die Glieder der Kirche so wenig durch das Leben, als die Juden ohne Gottes Hilfe durch die „große und schreckliche Wüste“ gekommen wären. Aber hier verheißt Gott seinem geistigen Bundesvolk eben diesen unentbehrlichen Schutz und die Hilfe, wofern der „Knecht“ ihn um diese Hilfe anruft und sich ständig dessen bewußt bleibt, daß er derselben bedarf.

Wie das Volk Israel in der Wüste einen harten Erziehungsgang durchzumachen hatte, so auch die Kirche dieses Zeitalters in einer ihr entfremdeten Welt. Sie hat nicht zu versuchen, diese Welt zu reformieren, zu bessern, zu heben; sie hat ihre Anstrengungen auf sich selbst zu richten, um in der Schule des Allerhöchsten bestehen zu können und die Zubereitung zu empfangen zu ihrem künftigen Dienst. Sie hat nicht im Schauen, sondern im Glauben zu leben. Denn nicht jetzt, wohl aber in der Zukunft, nachdem sie ihre Eignung dazu erlangt haben wird, soll sie einen Dienst an der Welt ausüben: „das Land aufrichten und die verwüsteten Erbteile austeilen.“

Solche, die ihre theologische Weisheit nicht dem Wort Gottes, sondern ihren eigenen Vorstellungen und der Weltweisheit entnehmen, ärgern sich über dieses Verständnis der Mission der Kirche. Sie reden von verfeinertem Egoismus der Frommen und von Weltfremdheit, von mystischer Lehre und Beschäftigung mit sich selbst - und wissen nicht, wie verständnislos sie reden; vor allem wissen sie nicht, daß sie nur Wege kennen, die schon tausendmal begangen worden sind, ohne zu etwas zu führen. Aber sie kennen auch das Irdische nicht, sonst müßten sie wissen, daß niemand eine große Aufgabe oder ein Amt übernehmen kann, der nicht zuvor zu diesem Amt geschult worden ist. Und in der Zeit der Schulung soll sich noch niemand Amtsbefugnisse anmaßen. In  d i e s e r  Zeit sind die Nachfolger des Herrn jetzt.

Nicht vor der Zeit des Reiches werden die Berufenen ihr hohes Amt verwalten dürfen. Dieses Amt ist die Wiederherstellung der von einer gottentfremdeten Welt zerstörten Erde und die Aufrichtung einer neuen Güterverteilung und Gesellschaftsordnung; es wird auch in der Erziehung und Belehrung der noch ungelehrten Menschen bestehen - und in der Erweckung derer, die in den Gräbern ruhen, der „Gefangenen“ des Todes. Denn der Christus, Haupt und Leib, wird dann als Mittler des Neuen Bundes zwischen Gott und der erlösten und zu neuem Leben erweckten Menschheit bestehen; seine Ehre wird es sein, der durch Christi Blut erkauften Menschheit das erworbene Gut des Auferstehungslebens zugänglich zu machen.

Was der „Gottesknecht“ auszuteilen hat, sind „verwüstete Erbteile.“ Nicht von allem Anfang an scheinen im Gottesreich Fülle und Herrlichkeit vorhanden zu sein. Die  n e u e  Erde geht aus den Trümmern der  a l t e n  hervor, und die Spuren einer furchtbaren Zerstörung werden anfänglich noch bemerkbar und aufdringlich sein. Die Welt muß einmal  a r m  werden, bevor sie in wahrer Weise reich werden kann. „Auf allen kahlen Höhen wird ihre Weide sein“, und - „sie werden an den Wegen weiden“, wo bekanntlich nur die Ärmsten ihr Vieh grasen lassen. Das deutet auf zunächst kümmerliche Verhältnisse hin. Das Entscheidende ist aber, daß wir versichert werden: „sie werden nicht hungern und nicht dürsten.“

Die neue Welt beginnt nicht mit Überfluß und nicht mit Luxus, aber die  S e g n u n g e n  Gottes werden unter solchen Umständen umso deutlicher wahrnehmbar sein. Die „Kimmung“, die Luftspiegelung also, die dem erschöpften Wüstenwanderer eine erquickende Oase vortäuscht, die er in Wirklichkeit nicht erreichen konnte, wird es nicht mehr geben. Das bedeutet, daß die  I l l u s i o n e n,  die den Menschen das ganze Leben hindurch narren und seine wirkliche Lage nicht erkennen lassen, alsdann keinen Einfluß mehr auf das Menschenleben haben werden; denn Wahrheit und Erkenntnis Gottes werden die Erde erfüllen, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken. Auch wird die Sonne niemanden mehr treffen.

Wenn die „Kimmung“ heute ein Bild für die Lebensillusionen ist, für die Trugbilder, die sich die Menschen vortäuschen, um das Leben besser zu ertragen, dann wird die „Sonne“ ein Bild für eine Wahrheit und Helligkeit sein, die über die Tragkraft des Menschen hinausgeht. So würde kaum ein Mensch die ganz ungeschminkte Wahrheit über das Leben und die Zukunft, die seiner wartet, ertragen können. Oft genug aber quälen Befürchtungen von Dingen, die an sich eben nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sind, den Menschen und vergällen ihm das Leben. Zwischen Hoffnung und Furcht, zwischen Illusion und Lebensangst, zwischen Kimmung und überheller Sonne spielt sich das Leben ab. Beide Plagen werden im Reich der Wahrheit und des Lebens überwunden sein. Denn „ihr Erbarmer“ führt sie zu frischen Wasserquellen. Alle Wege werden gebahnt sein, und von den vier Himmelsrichtungen wird das Volk herbeiströmen, um am Jubel und der Freude des Reiches teilzuhaben.

Solche Herrlichkeit und Ehre gedenkt der Himmlische Vater seinem Knecht zuzuwenden - zu groß, als daß ein Menschenherz es sich ausdenken könnte. Aber dieser zukünftigen Herrlichkeit steht die gegenwärtige Niedrigkeit und völlige Machtlosigkeit gegenüber, so daß der Gottesknecht den Eindruck oftmals nicht los werden kann: „Jahwe hat mich verlassen, und der Herr hat meiner vergessen.“

Das, was wir sehen, beherrscht uns; das, was wir erleben, drängt sich uns heftig als die Wirklichkeit auf. Für jeden gibt es eine Nacht, da er keine Sterne mehr erblicken kann. Sind deswegen die Sterne verschwunden? Nein. Aber dann bedürfen wir eines Trostes, der uns die Gewißheit gibt: Hinter dieser Finsternis leuchten die Sterne ungestört weiter. Und diese feste Versicherung schenkt Jahwe seinem Knecht ganz persönlich! Mit den allerstärksten Worten, mit den eindrucksvollsten Bildern, die sich je denken lassen, versichert er ihn: „Könnte auch ein Weib ihres Säuglings vergessen, daß sie sich nicht erbarmte über den Sohn ihres Leibes? Sollte selbst sie vergessen,  i c h  werde dich nicht vergessen. Siehe, in meine beiden Handflächen habe ich dich eingezeichnet; deine Mauern sind beständig vor mir.“ (Vse. 15,16) - Von solchen Zusicherungen muß der Glaube leben.

Darum müssen wir das Wort  e s s e n, damit wir es in uns haben als eine Stimme, die immer gegenwärtig ist, als den Heiligen Geist und  T r ö s t e r.  Nichts vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist. - Röm. 8:39

In diesem schneidenden Widerspruch von Glauben und Schauen muß der Knecht Gottes sein Leben zubringen, und darin ausharren in Treue bis in den Tod. Durch diesen Glauben soll er befähigt werden, „mehr als Überwinder“ zu werden durch des Herrn Gnade. Aber dazu bedarf er der Hilfsmittel, die der Herr bereitgestellt hat in seinem Wort und in der  G e m e i n s c h a f t  d e r  K i r c h e.  Darum „versäumen wir unser Zusammenkommen nicht, wie es bei etlichen Sitte ist, sondern ermuntern wir einander, und das umso mehr, je mehr wir den Tag herannahen sehen.“ - vgl. Hebr. 10:25

Was aber heißt: „Deine Mauern sind beständig vor mir?“ (Vs. 16) Es sind die „Mauern“  Z i o n s;  denn hier wird nun klar gemacht, daß der Gottesknecht nicht  e i n e r  ist, sondern daß es sich dabei um eine „Stadt“, eine Körperschaft, eben die Kirche Gottes handelt, wovon der Prophet redet. Gott versichert sie, daß sein Auge beständig auf den Schutz und die Bewahrung dieser Stadt gerichtet ist, daß ihr garnichts zustoßen kann von seiten ihrer Feinde. Diese „Stadt“ wird zwar belagert, beschossen und bekämpft, aber der Feind darf sie nicht einnehmen. Sie wird den Sieg behalten - auch da noch, wo der Gegner  s c h e i n b a r  die Oberhand hat. Es handelt sich um einen Sieg des Glaubens, nicht des Schauens.

In den Versen 18-21 zeigt Jahwe seinem trostbedürftigen Knecht weiter und mit blühenden Worten, welcher Art seine Ehrenstellung im Reiche Gottes sein wird: Die Krone der Herrlichkeit, die dem Getreuen verheißen ist. Im krassen Gegensatz zu der Erfolglosigkeit seines irdischen Wirkens, da er sich keinen Anhang gewinnen, keinen Glauben zu schaffen, keinen Dank zu sichern vermochte, wird sich in der kommenden Zeit alles um ihn scharen, alles ihm vertrauen, alles ihn ehren, so daß er nur verwundert und überrascht ausrufen kann: „Wer hat mir diese geboren, da ich doch der Kinder beraubt und unfruchtbar war, verbannt und umherirrend? Siehe, ich war ja allein übrig geblieben; diese, wo waren sie?“ - Vs. 21

Und die Antwort des Herrn lautet: „Siehe, ich werde meine Hand zu den Nationen hin erheben und zu den Völkern hin mein Panier aufrichten; und sie werden deine Söhne im Busen bringen, und deine Töchter werden auf der Schulter getragen werden. Und Könige werden deine Wärter sein, und Fürstinnen deine Ammen; sie werden sich vor dir niederwerfen mit dem Antlitz zur Erde, und den Staub deiner Füße lecken. Und du wirst erkennen, daß ich Jahwe bin: die auf mich harren, werden nicht beschämt werden.“ (Vse. 22,23) Gott selber wendet die Dinge so, daß der getreue Knecht nun Glauben und Anhang und Ehrung finden wird.

Aber da werden noch zwei Zweifelsfragen vorgebracht von den kleingläubigen Berufenen: „Sollte wohl einem Helden („Mächtigen“, engl. Übers.) die Beute entrissen werden? Oder sollen rechtmäßig Gefangene entrinnen?“ - Vs. 24.

Der Zweofler Gottes hat hier den gewaltigen „Fürsten dieser Welt“ vor Augen, der alle unter seiner Herrschaft, alle in seinem Bann hat; der unerhörte Machtmittel einsetzen kann, um seine Herrschaft zu festigen und scheinbar unangreifbar zu machen. Wie ist es denkbar, daß solche im Unsichtbaren gründende Macht erschüttert werden kann? Und noch viel unvorstellbarer ist, daß die, die rechtmäßig gefangen gehalten werden im großen Gefängnis des Todes, herauskommen aus diesem Kerker! Hier - so scheint es dem denkenden Menschengeist - sind der Erlösung und dem Reiche Gottes Schranken gesetzt, die höchstens den Glauben an eine begrenzte Errettung, an ein auf Wenige beschränktes Heil zulassen. Wer sollte so verwegen sein, das Undenkbare zu hoffen?

Aber wie lautet die Antwort auf diese Fragen? „Ja, so spricht Jahwe: auch die Gefangenen des Helden (Mächtigen) werden ihm entrissen werden, und die Beute des Gewaltigen wird entrinnen. Und  i c h  werde den befehden, der dich befehdet, und  i c h  werde deine Kinder retten. Und ich werde deine Bedrücker speisen mit ihrem eigenen Fleische, und von ihrem Blute sollen sie trunken werden wie von Most.“ Der Allmächtige will und wird mit allen Gegenmächten fertig werden, und kein Schatten einer Nebenherrschaft wird sich behaupten in seinem Reiche und dem seines Knechtes Jesu Christi, des Hauptes der Ekklesia, und des mit ihrem Haupt verbundenen Christusleibes, der Kirche. Wer widerstrebt, wird sich selbst vernichten. - s. Vse. 25, 26

„Und alles Fleisch wird erkennen, daß ich Jahwe, dein Heiland bin, und ich, der Mächtige Jakobs, dein Erlöser.“



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