„Bleibt in mir, so bleibe ich in euch“
Johannes 15:4a

Der Weinstock und die Rebe werden von demselben Saft durchflossen. Nur durch die ständige Zirkulation dieses Lebensspenders - vom Stamm bis hinaus in die äußersten Schößlinge der Rebe - wird das Wachstum ermöglicht, und werden auch die saftigen und wohlschmekkenden Früchte zur Reife gebracht, die dem Weingärtner erwünscht sind.

Diese Durchflutung der Pflanze mit ihrem Saft, von ihrer Wurzel ausgehend, hinauf durch den Stamm, hinaus in all die Schößlinge, hinein in die Früchte - ist eine ungeheure physikalische Leistung der Pflanze. Die Natur stellt uns damit ein göttliches Wunder vor unsere Augen, wie es die Menschen selbst in ihren modernsten Pumpwerken nicht ebenso ingeniös erfinden könnten. Doch auch die chemische Umgestaltung des Saftes in die verschiedensten Zellstoffe ist aus menschlicher Sicht garnicht zu erfassen. In den kleinsten „Pflanzenlaboratorien“ werden aus ein- und demselben Saft - je nach dem gerade vorliegenden Bedürfnis - ganz verschiedenartige Zellstoffe erschaffen.

Da keimt noch (ganz zart und weißlich-grün) ein ganz kleiner Schößling aus dem Stamm hervor, für das Auge kaum sichtbar, fügt Zelle an Zelle, und schon nach etlichen Tagen entfalten sich am grünen Stengel die ersten Blätter. Es folgen die Knospen, die Blüten und zuletzt die Früchte-- und  a l l e  sind aus ein- und demselben nährenden Saft entstanden.

Doch auch im  g e i s t i g e n  W e i n s t o c k,  in dem Verbundensein der ganzen Christuskörperschaft mit dem zentralen „Stamm“ oder Weinstock, Jesus Christus, zeigt sich solch ein Wunder.

Was war doch schon jenes erste Pfingstfest für ein übernatürliches Ereignis! Jener Tag, da der Geist Jesu Christi, der „Saft des Weinstockes“, zum ersten Mal herausströmte aus dem „Stamm“, dem Herrn der Herrlichkeit, und hineinfloß in die ersten Zweige und Schößlinge dieses Stammes! Die ganze Menge der Menschen in der Stadt Jerusalem lief zusammen und war bestürzt über das, was geschehen war. „Sie entsetzten sich alle und gerieten in Verlegenheit und sprachen einer zum andern: Was soll das bedeuten?“ - Apg. 2:12

Da waren diese Männer, alles Galiläer, und redeten auf einmal in der Vielfalt der Sprachen aller Völker, so daß ein jeder sie verstehen konnte! Jeder einzelne hörte von dieser Gnade, die uns allen in Jesu Christo geworden ist! Es war unfaßlich, daß diese vielfältige Sprachkenntnis den Jüngern durch den Geist mitgeteilt wurde, damit ein jeder Festbesucher in seiner eigenen Sprache die Botschaft des Heils hören möchte. In Ihm, in Seinem Geiste, fielen die Schranken und Hemmnisse der menschlichen Verständigungsmöglichkeiten, Nationalitäten und Rassen dahin, damit alle in  e i n e m  Geist,  e i n e r  e i n z i g e n,  allen verständlichen Sprache,  e i n e m  Glauben,  e i n e r  Liebe, um  e i n e n  Mittelpunkt in Jesu Christo gesammelt würden.

Das war ein Wunder des Geistes, das unsere Herzen auch heute noch immer und immer wieder ergreift. Und es ist etwas ähnliches, wenn wir von Brüdern oder Schwestern hören, die - durch weite Länder und durch fremde Sprachen von uns getrennt - dennoch mit uns vereint durch das Band des Geistes im selben Glauben stehen. Möchten wir doch alle diese erste Kraftwirkung des Geistes an dem ersten Tage der Segnung der jungen Kirche gerade auch heute nicht vergessen, da ganz gewaltige und verderbliche Irrtümer uns den Sammel- und Mittelpunkt unseres Versammelt- und Vereinigtseins aus dem Zentrum wegschieben möchten! Christus allein ist für uns dieser Mittelpunkt, Ihm allein geben wir das Recht, einen Totalitätsanspruch an unser ganzes Sein und Haben zu stellen. Er ist für uns dieser „Stamm“, und jede „Rebe“, die nicht von diesem Stamm getragen werden will, wird abgeschnitten werden, wird verdorren.

Dieser erstmalige Durchbruch des Geistes (zu Pfingsten) war jedoch nicht ein einmaliges Ereignis. Wohl trat mehr und mehr die äußere, demonstrativ wirkende Offenbarung des Geistes zurück, doch nichtsdestoweniger wirkt derselbe Geist auch heute noch in der Kirche. Dieser Geist, der Jesus aus den Toten auferweckte, der Leben aus dem Tode wirkt, möchte uns  v ö l l i g  besitzen. Ein jeder - auch der äußerste Schößling, der an Ihm hängt - er wird von diesem Wundersaft des Heiligen Geistes durchflutet. Wohl in die letzten Schoße noch, ganz zu oberst, wird von diesem Saft hinaufgepumpt, und auch sie kommen nicht zu kurz.

Wir wissen nicht, wie diese große Pumpanlage der Pflanze arbeitet - ob dieser Saft sie kontinuierlich, in gleichmäßigem Fluß durchrinnt, oder ob die Pumpe auch in einem gewissen Rhythmus arbeitet, ähnlich unserem menschlichen Herzen, das eine Pulsation unseres Blutes durch die Adern erzeugt. Dabei ist es ja das Interessante, daß das Blut bis hinaus in die feinsten Verästelungen der Adern in genau demselben Rhythmus wie das Herz selbst pulsiert.

Fassen wir zum Beispiel den Puls am Arm, so können wir ohne weiteres feststellen, in welchem Rhythmus das Herz schlägt. Vielleicht wohnt auch in der Pflanze ein ähnlicher Lebensrhythmus; wir wissen es nicht. Aber - ob ja, ob nein - dieser Lebensrhythmus unseres Blutes ist ein sehr schönes Bild für die Pulsation des Geistes Christi in der ganzen Christuskörperschaft. Solange denn auch in irgendeinem Glied dieser göttlichen Gemeinschaft in Christo das Pulsieren des Geistes des Herrn bekundet wird, so lange dürfen wir denn auch gewiß sein, daß dieses Glied „in Ihm“ lebt.

So werden auch Freuden, die das Herz schneller schlagen lassen, von einem jeden Glied, bis zum unscheinbarsten, mitempfunden werden; denn ein gemeinsames Leben durchströmt sie alle. Eine der vielen Vorfreuden ist gewiß die, daß bald die Braut mit ihrem Bräutigam vereint sein wird, um der armen, mißgeleiteten Menschheit die Segnungen zu schenken, die unser liebender Schöpfer für sie vorgesehen hat.

Leben aus dem Tode

Ist nun dieses Strömen des Saftes im Weinstock hinauf durch den Stamm, hinaus durch die Schößlinge bis hinein in die feinsten und äußersten Verästelungen und Triebe ein großes Wunder, so ist es aber auch nicht minder die  V e r w a n d l u n g  dieses Saftes zum verschiedenartigen Zellstoff, der die Triebe, die Knospen, die Blätter oder gar die herrlichen Früchte wirkt.

Wir mögen nun die Kirche Christi in ihrer Gesamtheit als „den Weinstock“ betrachten, oder nur das einzelne Glied der Gemeinschaft als eine „Rebe am Weinstock“ - beider Entwicklung offenbart uns das „Geheimnis, welches von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war.“ (Kol. 1:26) Oder ist nicht die Zeugung der „Neuen Schöpfung“ aus dem Geiste, ihre Entwicklung in Geiste, ihr Bekenntnis im Geiste und ihre Früchte des Geistes ein übernatürliches Wunder? Etwas, das aber nur aus dem Geist heraus geschehen und auch voll erkannt werden kann?

Vor Jesu Tod am Kreuz konnten Seine Jünger fast täglich  r e a l e  Wunder miterleben: Blinde wurden sehend, Lahme gehend, Taube hörend und Kranke geheilt; aber was wußten die Jünger von den viel höheren, mächtigeren Wundern des Geistes, die an ihnen selbst geschehen sollten, ja mußten, damit sie überhaupt in die Lage kommen konnten, Ihm nachzufolgen? Doch nach Pfingsten, nachdem sie den Geist aus der Höhe empfangen hatten, erfuhren sie diese Wandlung an sich selbst. Nun stand auch hinter ihren Aussprüchen die ganze Kraft und Autorität des Geistes Gottes. Wenn ein Paulus sagte: „Ob wir nun leben oder sterben - wir sind des Herrn“, so steht hinter diesem Wort eine ganz andere Macht und Kraft, als wenn die Jünger vordem sagten: „Wenn wir auch sterben müßten, so wurden wir dich nicht verleugnen.“ (Mt. 26:35) So sprachen auch  a l l e  Jünger.

Für das menschliche Ohr mag beides gleich überzeugend klingen; das geistige Ohr aber unterscheidet. Für dieses sind Worte - aus dem Geiste gesprochen - auch Worte, hinter denen die ganze Kraft- und Machtfülle des Geistes steht, mag nun das Fleisch, das sie ausspricht, so arm und so schwach sein, als es will.

Wo der  G e i s t  das Wollen schafft und dazu auch oft zum mündlichen Bekenntnis bewegt, da schafft er auch das Vollbringen! Wo aber das Wollen aus dem  M e n s c h l i c h e n,  dem Fleische quillt, da dürfen wir auch nicht des Geistes Vollenden erwarten.

„Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen. Sie arbeiten nicht und spinnen nicht; ich sage euch aber, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht so bekleidet gewesen ist wie eine von diesen.“ - Mt. 6:28

Ist die Pracht dieser Blume nicht ein Wunderwerk Gottes? Staunend stehen wir vor ihren Blütenkelchen und bewundern ihr zartes Gefüge und das Ebenmaß ihrer Gliederung. Wer entwarf ihre herrliche Form und bestimmte das Leuchten ihrer Farben? Und doch - obwohl auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet war wie irgendeine von ihnen - so waren sie doch in unerschöpflicher Fülle ausgestreut, spendeten die Auen Sarons sie in einer selbstverständlichen und natürlichen Freigebigkeit. Ein Kunstwerk aus der Schöpferhand Gottes. Und dabei ist ihr Wachsen ein so ungekünsteltes, ein so natürliches, ohne äußeres Getue und Gepräge. Der Allmächtige hat schon das Gesetz ihres Werdens in ihren Keim gelegt, und dementsprechend werden und wachsen sie. Sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht, und der Schöpfer im Himmel kleidet sie doch mit Pracht.

Die „Neue Schöpfung“ wird das größte und erhabenste Kunstwerk der ganzen Schöpfung sein: die Krone göttlicher Kreation! Und dennoch geschieht ihre Entwicklung, ihr Wachstum - gleich dem dieser Lilien - auf den Gefilden Sarons. Gott selbst bestimmte das Kleid ihrer Herrlichkeit, entwarf das Bild ihrer Schönheit, und Seine eigene Hand gestaltet und schafft das Werk durch den Geist zu Seines Namens Preis und Ehre. Noch ist das Wachstum, das Werden und Leben ein in Christo verborgenes. Nicht in großem Schaugepränge liegt der Beweis des Geistes, nicht darin etwa, daß wir aus Steinen Brot machen, auch nicht darin, daß wir uns von der Zinne des Tempels herabstürzen, um so in Gottes Bewahrung unsere Verbundenheit mit ihm zur Schau zu stellen; vielmehr darin, daß wir getreu der Führung des Geistes folgen, Gott selbst schaffen und wirken  l a s s e n.

In diesem Sinne arbeiten und spinnen auch wir nicht, und der Allerhöchste schenkt uns doch das schönste und herrlichste Kleid unter all Seinen Geschöpfen! Wir haben die tröstliche Verheißung, daß der Ewige für alle Bedürfnisse unseres Lebens sorgen wird, so daß wir nicht ängstlich fragen müssen: Was werden wir essen, was werden wir trinken? Wir werden dies nicht fragen müssen, so wenig hinsichtlich unserer irdischen Bedürfnisse als auch hinsichtlich der geistigen! Er schafft uns Brot des Himmels, Wasser des Lebens und wird die Auserwählten und Treuen kleiden in Pracht, wie sie es nie sich hätten ausdenken können.

Die Entwicklung der Neuen Schöpfung ist abermals ein Wunder Gottes und doch auch wieder ein so natürlicher Vorgang; aber auf Gesetzen beruhend, die jener Welt, aus der Christus uns entgegentritt, angehören; es sind Gesetze des Lebens und des Geistes. Diese Entwicklung kann auch nur aus dem Geist heraus gesehen und verstanden werden. Denn „der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit.“ - 1. Kor. 2:14

Der Abglanz Seiner Herrlichkeit

Wenn wir Jesu Charakterbild in seiner Gesamtheit betrachten, so erweckt es in uns immer wieder erneut großes Staunen. Er war wirklich ein kostbarer Edelstein, ein Diamant, wunderbar geschliffen von der Hand Gottes! Drehen wir diesen Edelstein, so funkelt es nur so von den Lichtreflexen seines göttlichen Charakters. Bei der Vielgestalt seiner Flächen widerstrahlen immer wieder neue Lichtblitze die Herrlichkeit Gottes.

Nie erscheint Er uns einseitig. Seine Demut wird durch eine königliche Haltung und Größe aufgewogen. Er vereinigt in sich die größten Gegensätze: Zartfühlende Milde ist gepaart mit herber Strenge. Es heißt beispielsweise von ihm, daß er nie ohne Gleichnisse zu den  M e n s c h e n  geredet hätte; seinen  J ü n g e r n  dagegen legte er alles besonders aus. (Mk. 5:34) Ihnen gegenüber war er von solcher Nachsicht, daß er oft hernach seine gedankentiefen Gleichnisse mit ihnen im Besonderen durchging. Nachdem er einmal so viel zu ihnen geredet und ihr Fassungsvermögen bis zum Rand gefüllt hatte, da sagte er: „Noch vieles hätte ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen; aber ich werde euch den Tröster senden, und der wird euch in alle Wahrheit leiten!“ Welch ein zartfühlender Lehrer muß der Herr gegenüber seinen Jüngern gewesen sein!

Demgegenüber - kontrastierend - steht seine herbe Strenge, mit der er die überheblichen Pharisäer behandelt. In Mt. 15:1-7 heißt es (nach Albrecht): „Da traten zu Jesus Schriftgelehrte und Pharisäer, die aus Jerusalem gekommen waren, und sprachen: ’Warum übertreten deine Jünger die Vorschriften, die uns die Alten überliefert haben? Sie waschen sich ja vor der Mahlzeit die Hände nicht.’ Er antwortete ihnen: ’Warum übertretet ihr denn euern Vorschriften zuliebe Gottes Gebot? Gott hat doch gesagt: Ehre deinen Vater und deine Mutter! und: wer Vater oder Mutter schmäht, der soll des Todes sterben.

Ihr aber behauptet: Wer zum Vater oder zur Mutter spricht: Ich stifte für den Tempelschatz, was ich dir sonst zum Unterhalt gegeben hätte, der braucht Vater oder Mutter nicht zu ehren. So setzt ihr eurer Satzung zuliebe Gottes Gesetz außer Kraft. Ihr Heuchler! Treffend hat Jesaja von euch geweissagt: Dieses Volk ehrt mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir. Ihr Gottesdienst ist wertlos, denn sie verkünden Lehren, die nichts als Menschensatzung sind.’“

Der Gedanke ist der, daß die Schriftgelehrten und Pharisäer in ihren Satzungen wider das strikte und klare Gebot Gottes lehren, daß - wer für den Tempelschatz das stiftet, was billigerweise für den Unterhalt der Eltern dienen sollte - von dem Gebot „Ehre Vater und Mutter“ befreit sei.

Ihre Geld- und Habgier ließ die Pharisäer nicht davor zurückschrekken, Gebote Gottes außer Kraft zu setzen. Doch, blind für ihr eigenes heuchlerisches Gebaren, scheuten sie sich nicht, Jesu Jünger anzuklagen, daß sie vor dem Essen ihre Hände nicht waschen würden. Wer solchen Verdrehungskünsten huldigt, den bezeichnet Jesus frei heraus als Heuchler.

Dann laßt uns wiederum seine Milde und seine Strenge beobachten. Von welch mitfühlender Milde erscheint uns Jesus zum Beispiel in der Begebenheit mit der Sünderin! (s. Lk. 7 ab Vs. 36) Mit welchem Feingefühl nimmt da der Herr dieses sündige Weib gegenüber Simons Anklagen in Schutz!

Er sprach zu Simon: Siehst du dieses Weib? Ich bin in dein Haus gekommen, du hast mir kein Wasser für die Füße gegeben; sie aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben; sie aber hat, seitdem ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; diese aber hat mit Salbe meine Füße gesalbt. Deswegen sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt.“ - Lk. 7:44-47

Demgegenüber möchten wir auf die strenge Entschiedenheit hinweisen, mit der Jesus sogar seinem geliebten Jünger Petrus entgegentritt, als dieser einmal in wohlwollender, aber doch menschlicher Rücksichtnahme versucht, Ihn von dem durch den Geist gewiesenen Weg abzubringen. „Weiche hinter mich, Widersacher! Du bist mir zum Fallstrick; denn du hast nicht das Göttliche im Auge, sondern das Menschliche!“ Das sind die entschiedenen, kompromißlosen Worte, die Jesus selbst einem Jünger gegenüber gebraucht. - Mt. 16:23

Diese wenigen Schriftstellen zeigen uns ja wiederum nur ein Detail von der hohen und erhabenen Gestalt unseres Herrn! Und doch - wie groß und würdevoll ist auch dieses Wenige noch! Wie schwer fällt es uns, gerade diese unvereinbar erscheinenden Tugenden der Milde und Nachsicht und andererseits der Konsequenz und Entschiedenheit in uns zu vereinen! Dann möchten wir darauf hinweisen, wie unser Herr, der Heilige und Reine, der uns in Seinem Geist die höchste, edelste und reinste Gemeinschaft gestiftet hat, die je irgendeinem Wesen zuteilgeworden ist, dennoch dem Tisch der Zöllner beiwohnt als das Licht, das in die Finsternis hineinleuchtet. Nie zeigt sich an Ihm auch nur im entferntesten so etwas wie pharisäischer Dünkel.

Fortfahrend in der Aufzählung dieser wunderbaren Kontraste in der Natur Jesu könnte man auch hinweisen auf seine sichere, ungestörte, ja, sorglose Ruhe, wie er sie offenbart inmitten tosender Elemente, des Sturms auf dem See Genezareth. Als die Jünger sich schon in höchster Lebensangst befinden, schläft Er ruhig auf seinem Kissen. Demgegenüber laßt uns denken an den stürmischen Eifer, der ihn ergreift, als er das Gebetshaus Gottes, den Tempel, mit feilschenden und übervorteilenden Händlern erblickt. „Mein Haus soll ein Bethaus sein, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht!“

Denken wir auch an des Herrn frei schenkende, unbeschränkte Güte, durch die er so viele Hungernde mit Brot speiste, während er andererseits wie ein sparsamer, gewissenhafter Hausvater die restlichen Brocken sammeln ließ! Wahrhaftig - wenn wir  I H N,  den Anfänger und Vollender unseres Glaubens betrachten, den „Schönsten unter Tausenden“ - wie sollten wir da seine Nachahmer sein können, wenn nicht  „I n  I h m“,  nicht durch Seine Kraft? Wenn wir nicht wissen dürften, daß derselbe Geist, der Ihn geleitet hat, auch uns leiten und auch in uns alle diese herrlichen Tugenden des Lebens hervorbringen will?

Darum sagt auch der Psalmist prophetisch von Christus, daß Er zur Höhe aufgefahren ist, die Gefangenschaft (des Menschen in Sünde und Tod) gefangen geführt und Gaben empfangen hat für Menschen, ja selbst für Widerspenstige (siehe Ps. 68:18). Kein Geringerer als ein lebendiger, siegreicher und verherrlichter Christus bildet den Mittelpunkt, um den Christi Glieder sich sammeln. Und allein von diesem Christus, der herab- und auch wieder aufgestiegen ist, werden uns die verheißenen Gaben zuteil, von denen die größte die Gabe des Heiligen Geistes ist. Und nicht eine einzige dieser „Früchte des Geistes“ ist je auf dem dürren Boden der menschlichen Natur erzeugt worden. „… Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde …“

Wir in Ihm - Er in uns

Gott will nicht äußerliche Nachahmung des Werkes des Heiligen Geistes; alles muß  v ö l l i g  u n d  w i r k l i c h  v o n  d e m  G e i s t  g e w i r k t  sein! Und ebenso darf das, was von diesem göttlichen Geist gewirkt ist, nicht dem Menschen zugeschrieben werden. „Der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit; er kann es nicht erkennen, weil es geistig beurteilt wird.“ - 1. Kor. 2:14

Möge Gott uns daher geben „nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen, daß Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohne, indem wir in Liebe gewurzelt und gegründet seien, auf daß wir völlig zu erfassen vermögen mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei, um zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, auf daß wir erfüllt sein mögen zu der ganzen Fülle Gottes!“ - Eph. 3:16-19

Wo allerdings der Himmlische Weingärtner eine Rebe fände, in der dieser köstliche Lebenssaft nicht die herrliche Frucht hervorbringen würde, da müßte Er eine solche abschneiden. „Jede Rebe aber, die Frucht bringt, die reinigt er, daß sie noch mehr Frucht bringe.“

Eine abgeschnittene „Rebe“ aber wird mehr und mehr des Lebenssaftes ermangeln, der allein das Leben zu erhalten vermag. Außer ihm stehend, vom Stamm abgelöst, wird wohl Trübsal, Not und Leid an eine solche herantreten; und es wird nicht mehr das Winzermesser in der kundigen Hand des Weingärtners sein, das für ein „gesundes“ Wachstum sorgt; die vom Weinstock abgetrennte Rebe muß verdorren. Einmal vom Stamm getrennt, gibt es nicht mehr die Gewißheit, daß  a l l e  Dinge zum Guten mitwirken müssen. Da wird der Heilige Geist uns nicht mehr anleiten, zu fragen und zu verstehen: Was habe ich da wohl zu lernen? Was will der Herr mir damit wohl sagen? Einmal von der Wurzel getrennt, werden wir auch nicht mehr die selige Ruhe des Glaubens besitzen, das Bewußtsein, von Ihm getragen zu sein. Darum laßt uns wachen, wachen und wieder wachen, damit uns nichts von dieser Einheit mit unserem Herrn trennen könne. Laßt uns aber auch ebenso innig und zuversichtlich darum beten!

Im Hohenpriesterlichen Gebet hat Jesus selbst auch für uns um diese Einheit gebetet: „Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, gleichwie wir.

Leider ist es uns nicht gegeben, die Tiefe der Gemeinschaft, die zwischen dem Herrn und dem Vater bestanden hat und noch besteht, in unserer Schwachheit völlig zu erfassen. Wir sind leicht geneigt, diese Gemeinschaft mit der zu vergleichen, die wir genießen dürfen. Die Welt, der Widersacher und das Fleisch sind allzu bereit, uns die Eintracht mit dem Himmlischen Vater und mit dem Herrn zu zerstören. Ein jedes von uns hat gewiß schon verspürt, wie gerade wir oft in unseren Gebeten durch allerlei nichtige und einfältige Gedanken gestört werden. Unser Gegner weiß, daß in dem engen Zusammenschluß mit Gott und unserem Herrn unsere Stärke beruht. Durch das Gebet insonderheit will der Geist in uns tätig sein, was aber dem Fleisch und dem Widersacher zuwider ist.

Nehmen wir das Wort „in Ihm sein“ einmal buchstäblich, so würde das bedeuten, daß eine Person gleichsam in der anderen eingeschlossen ist, daß sich das eine dem anderen genau anschmiegt, so, wie ein Stempel zum Beispiel in seine Form, in seine Matrize hineinpaßt. Es heißt also nicht:  u m  Ihn,  b e i  Ihm,  m i t  Ihm,  a n  Ihm, sondern eben:  „I n  I h m.“

In diesem Sinne konnte daher der Apostel Paulus sagen: „Ziehet vielmehr den Herrn Jesus Christus an.“ (Röm. 13:14) Wenn jemand den Herrn „anzieht“, so wird sein ganzes Wesen durch Jesus Christus bedeckt sein. Für den, der Selbstvertrauen nährt, wird es nicht so leicht sein, gänzlich „in Christo“ zu sein. Die göttliche Weisheit leitet uns an, uns selbst zu mißtrauen, damit der Herr sich uns anvertrauen kann. „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ - Joh. 14:23

Möchten wir uns daran erinnern, daß das „Wohnen“ Gottes unter Seinem Volk die Sehnsucht Israels und seiner größten Könige war. Nur schattenhaft, vorbildlich hatten sie einen Abglanz dieser Seligkeit erfahren, und sie priesen und verherrlichten Gott deswegen in bewegten und überglücklichen Worten.  U n s  aber ist die gegenbildliche Bedeutung zum kostbaren Besitz geworden:

„Christus in euch,
die Hoffnung der Herrlichkeit“



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung