Evangelium und Weltgeschichte

Die Botschaft an Thyatira, Teil II

Wie wenig wissen wir doch über das verborgene Leben jener, die inmitten der stolzen und tyrannischen Tage Roms demütig und still mit ihrem Gott wandelten!  D a ß  es sie gab, offenbart nur die Botschaft an Thyatira: „Ich kenne deine Werke und deine Liebe und deinen Glauben und dein Ausharren…“

Es dauerte bis hinein in das 12. Jahrhundert, daß die Geschichte namentlich eine Gruppe Gläubiger erwähnt, die Kraft und Leben für das Evangelium Jesu Christi einsetzten. Die Überlieferung gibt Kunde von einem gewissen Peter Waldus, einem vermögenden Kaufmann aus Vaux (od. Waldum), einer Stadt im Landkreis von Lyon, Frankreich.

Dieser Mann war außerordentlich bestrebt, wahre Frömmigkeit und christliche Erkenntnis zu fördern. Er beauftragte im Jahre 1160 einen Priester, die vier Evangelien - zugleich mit anderen Büchern der Heiligen Schrift- aus dem Lateinischen in die französische Sprache zu übersetzen.

Nach aufmerksamem Studium dieser heiligen Bücher machte er die Feststellung, wie so gänzlich verschieden die damalige Lehre der römischen Kirche von der ursprünglichen Froh-Botschaft war, die Jesus Christus und seine Apostel verkündigt hatten.

Zutiefst betroffen von dem offensichtlichen Widerspruch zwischen den päpstlichen Lehren und der Wahrheit des Evangeliums, entsagte er seinem kaufmännischen Beruf, verteilte seine Besitztümer unter die Armen und gründete mit anderen Gläubigen, die ähnlich wie er empfanden und glaubten, eine Vereinigung. So begann er den Weg eines öffentlichen Predigers. Überall, wohin er kam, lehrte er die Worte Jesu und die Richtlinien der Hl. Schrift.

Bald, nachdem Peter Waldus diesen Dienst für den Herrn aufgenommen hatte, widerstand ihm - wie das vorauszusehen war - der Bischof von Lyon und andere kirchliche Vorsteher jener Provinz auf das Heftigste.

Indessen - ihr Widerstand war umsonst. Denn die Einfachheit und Reinheit dieser Lehre, die jene vortrefflichen Männer verkündeten, dazu ihr durch und durch einwandfreier Lebenswandel, ihre vornehme Nichtachtung von Reichtum und Ehre wirkten derartig bezwingend auf alle, die noch etwas von der wahren Frömmigkeit empfanden, daß die Zahl ihrer Mitstreiter täglich zunahm.

Auf diese Weise entstanden überall Zusammenkünfte und Gemeinschaften: zuerst in Frankreich, dann in der Lombardei. Von dort aus verbreitete sich die Gemeinschaft der Waldenser, (der Armen von Lyon, wie man sie nannte) mit unglaublicher Schnelligkeit über alle Teile Europas. Ihr unbezwinglicher Mut kapitulierte weder vor Feuer noch Schwert. Nicht die grausigsten Mittel erbarmungsloser Verfolgung von seiten der Kirche Roms konnte ihren Eifer dämpfen noch ihren Dienst für die Wahrheit auslöschen.

Was sie erstrebten, war, die römisch-kirchliche Regierungsform und den Wandel der Geistlichkeit wie auch den des Volkes zu jener Einfachheit und ursprünglichen Heiligkeit zurückzuführen, die so entschieden in den Lehren und Anweisungen des göttlichen Urhebers unseres heiligen Glaubens empfohlen sind.

Sie beklagten, daß die römische Kirche von der ursprünglichen Reinheit der Lehre Christi abgewichen sei. Die Oberhoheit des römischen Papstes über die mächtige Institution „Kirche“ lehnten sie ab. Ihrer Ansicht nach mußten alle Vorsteher und Diener der „Kirche“ ihrer Berufung gemäß in der Armut und Einfachheit der Apostel leben und mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienen. Sie hielten - bis zu einem gewissen Grade - jeden wirklichen Christen für befähigt und ermächtigt, die Brüder in ihrem christlichen Laufe zu belehren, zu ermahnen und zu stärken.

Auch die Beichte vor einem Priester lehnten sie ab. Der demütige Gläubige könne seine Übertretung vor jedem, treuen Jünger Christi bekennen und seine Reue bekunden, um von ihm Rat und Ermahnung zu empfangen. Sie waren überzeugt, daß Gott allein die Macht habe, Sünden zu vergeben, und daß folglich der sogenannte „Ablaß“ der Sünden von kirchlicher Seite aus (den man sich erkaufen konnte) eine verbrecherische Erfindung der Gewinnsucht sei.

Gebete und Zeremonien für die Toten betrachteten sie als vergeblich und nutzlos, und auch den Fortbestand der Seelen in einem Zwischen-Zustand der Reinigung lehnten sie als un-schriftgemäß ab.

Als Vorbild ihrer moralischen Zucht stellten sie Christi Bergpredigt auf, die sie im allerstrengsten und wörtlichen Sinne auslegten. Jegliche Art von Krieg, Klagen vor Gericht und alle Versuche, Reichtum zu erwerben, paßte für sie nicht in einen christlichen Lebenswandel.

Die Übersetzung der vier Evangelien ins Französische war das erste Erscheinen der Hl. Schrift in einer der modernen Sprachen. Durch den Besitz dieser Bücher entdeckte Waldus bald, daß die Kirche Christi niemals dazu bestimmt war, von einer Priesterschaft abhängig zu sein. Daß er durch diese und andere seiner Glaubensüberzeugungen der Kirche Roms absolut mißfiel, war zu erwarten. Er wurde vom Papst in den Bann getan.

In Lyon, nicht mehr sicher, flohen Waldus und seine Freunde in die stillen Bergtäler von Piemont und bildeten dort jene Gemeinden, von denen aus sie die lautere, christliche Lehre über ganz Europa verbreiteten. Die Provence, Languedoc, Flandern, Deutschland - ein Landstrich nach dem anderen genoß das erfrischende Wasser der Wahrheit. Wobei aber nicht übersehen werden darf, daß jene Verbreitung der damals erkannten Wahrheit keineswegs immer unter friedlichen Verhältnissen vor sich ging. Der machtvolle und so unaussprechlich grausame Arm des päpstlichen Rom verfolgte alle, die sich ihren Lehren und Anordnungen widersetzten. Letzten Endes wurden auch diese Getreuen des Herrn von der Inquisition erfaßt.

Peter Waldus vertrat seine reformatorischen Lehren schon mehrere hundert Jahre, bevor Luther geboren wurde. Schließlich ließ er sich in Böhmen nieder, wo er gegen das Jahr 1179 starb. In demselben Jahre wurden seine Glaubenssätze auf einem allgemeinen Konzil der römischen Kirche verworfen. Die Gemeinde der Waldenser aber stand als ein wunderbares Licht auf den „Bergen“ des dunklen Mittelalters.

Wahr bleibt, daß damals nur die einfachen Grundwahrheiten des Evangeliums verkündigt wurden; aber diese mußten zuerst ans Licht gebracht werden, bevor das volle Maß der Wahrheit entdeckt werden konnte, wie es dann später auch geschah.

Die Tatsachen der Geschichte zeigen, daß - wo immer diese Grundwahrheiten verkündigt wurden -Gott auch alsbald edle Verteidiger auf den Plan stellte, die sich um diese Wahrheit herum sammelten.

* * *

„Ich kenne deine Werke und deine Liebe und deinen Glauben und dein Ausharren, und weiß, daß deiner letzten Werke mehr sind als der ersten.“

Die Thyatira-Periode der Kirche Christi zog sich über lange Jahrhunderte hinweg. Wie schon gesagt, wissen wir so wenig - oder vielmehr garnichts - über die Zeiten, in denen die wahren Gläubigen unter der Macht der Unterdrückung, der Verfolgung und schließlich der grausamen Inquisition von seiten Roms ausgeharrt haben in  d e m  Licht des Evangeliums, das ihnen zu jenen Zeiten zugänglich war.

Was waren ihre Werke? Wie äußerte sich ihre Liebe? Wieviel Glaubenserkenntnis hatten sie, um ihr Ausharren unter jenen schweren und schwersten Umständen zu bewahren? Der HERR jedenfalls weiß es. ER weiß, was jene für uns Namenlosen um Seines Namens willen getan und gelitten haben, und wird sie bei seiner zweiten Gegenwart voller Liebe in seine Arme geschlossen haben - in der ersten Auferstehung.

Daß ihrer letzten Werke mehr waren als ihrer ersten, dürfen wir wohl so verstehen, daß gegen Ende der Thyatira-Periode eben der zuvor beschriebene Widerstand der Waldenser und anderer (z.B. der Albigenser) gegen die weltliche Macht der Kirche Roms laut wurde, und daß durch die damalige Verbreitung des Evangeliums in weite Teile Europas sich der Sturz der absoluten Herrscher-Macht der römischen Kirche vorbereitete.

Je mehr wir uns mit der Geschichte jener dunklen Tage vertraut machen, desto eher werden wir entdecken, daß es in der langen Reihe dieser geduldigen Zeugen, die sich über Jahrhunderte hin erstreckte, ein allmähliches Wachstum in der Standhaftigkeit und inneren Stärke gab, die im Verlauf der Zeit immer mehr zunahm. Je heller das Licht des Evangeliums aufleuchtete, desto kühner und offener zeigte sich der Kampf gegen Rom.

Fortsetzung folgt.



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