Evangelium und Weltgeschichte

Die Botschaft an Thyatira, Teil I

„Und dem Engel der Versammlung in Thyatira schreibe: Dieses sagt der Sohn Gottes, der seine Augen hat wie eine Feuerflamme und seine Füße gleich glänzendem Kupfer:

Ich kenne deine Werke und deine Liebe und deinen Glauben und dein Ausharren, und weiß, daß deiner letzten Werke mehr sind als der ersten. Aber ich habe gegen dich, daß du das Weib Jesabel duldest, welche sich eine Prophetin nennt, und sie lehrt und verführt meine Knechte, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen. Und ich gab ihr Zeit, auf daß sie Buße täte, und sie will nicht Buße tun von ihrer Hurerei.“ Off. 2:18-21

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Thyatira war eine Handelsstadt in Lydien (Kleinasien), berühmt durch ihre Purpurfärbereien. Die Purpurkrämerin Lydia in Philippi (Apg. 16:14) stammte aus Thyatira, Der Name der Stadt bedeutet „Opfertor“ oder auch „lieblicher Opferduft.“ Und die Botschaft, die der Herr an Thyatira sendet, betrifft die Kirche in ihrer vierten Entwicklungsphase.

Diese Periode der Kirchengeschichte wird von einigen Historikern sehr treffend als „die Zeit der  H e r r s c h a f t  der Welt-Kirche“ angesprochen - zum Unterschied von der vorhergehenden Pergamos-Epoche, die als „die Zeit der  V e r b i n d u n g  der Kirche mit der Welt“ angesehen wird.

Sie stellt jene Periode des Papsttums dar, während der die jungfräuliche Kirche die Beschwerden der Wüste (Absonderung) ertragen mußte, und die abtrünnige Kirche auf dem Thron ihres königlichen Buhlen saß.“

Der Beginn jenes Zeitabschnittes liegt im Jahre 539 n. Chr. und ist durch ein Dekret des römischen Kaisers Justinian I. gekennzeichnet, der zu jener Zeit in Byzanz, d. i. Konstantinopel residierte. Dieses Dekret, erstmals im Jahre 533 n. Chr. herausgegeben, setzte den Bischof von Rom als Oberhaupt über alle Kirchen der Christenheit ein. Wir haben in Band 3, Studie 3 der „Schriftstudien“, einen sehr ausführlichen und anschaulichen Bericht über die damaligen politischen und kirchlichen Zusammenhänge, die mit erstaunlicher Präzision die Prophetie Daniels in Kap. 7 erfüllten. Für den Leser, der sich für unser Thema interessiert, ist es immer wieder gut, sich jener Welt kirchengeschichtlicher Abläufe zu erinnern.

Dieses Dekret, das zwar 533 ausgegeben war, kam aber erst im Jahre 539 zu voller Geltung. Obengenannte Ausführungen über den bemerkenswerten Machtaufstieg der Kirche Roms erklären die Hintergründe jenes gewaltigen Systems, das Jahrhunderte hindurch Könige, Kaiser und Nationen beherrschen sollte.

Viele sind der Ansicht, der Anfang der kirchenstaatlichen Macht liege in der Zeit Konstantins des Großen, der im Jahre 328 die nominelle Christianisierung des römischen Reiches anordnete. Konstantin hatte jedoch keineswegs die weltliche Macht als ein Recht der Kirche anerkannt. Im Gegenteil: es war die vom heidnisch-römischen Joch befreite Kirche, die zwar unter Konstantin langsam zu einem herrschenden System heranwuchs, die aber von sich aus den Kaiser zu ihrem Mitbestimmer machte. Es war der Kaiser, der Kirchenkonzilien berief und über Kirchenangelegenheiten mitbestimmte; der Kirche selbst aber war es nicht gestattet, sich in Staatsangelegenheiten einzumischen.

Doch mit der Zeit begann der Bischof von Rom allmählich eine außerordentliche Stellung vor der Welt einzunehmen. Er fing an, sowohl über innerkirchliche als auch weltliche Angelegenheiten die Oberhoheit zu beanspruchen. Aber auch andere Bischöfe in anderen Städten bestanden auf dem Recht jener höchsten Stellung. Dieser Kampf um die Macht dauerte immerhin ca. 200 Jahre.

Der kaiserlichen Einsetzung des Bischofs von Rom als Oberhaupt über alle Kirchen der Christenheit ging ein langer, sich über Jahrhunderte hinziehender Streit über die Natur Jesu Christi voraus. Ebenso ging es um die Verehrung Marias als „Gottesmutter“ und „Gottesgebärerin.“ Ost- und Westkirche (Byzanz und Rom) konnten sich nicht einigen. Es ist erstaunlich zu lesen, welcher Art Gedankenschlüsse um diese „Erkenntnispunkte“ die Köpfe der Priesterschaft bewegten; und ebenso erstaunlich, wie viele heiße Streitigkeiten in der Welt des „christlichen“ Glaubens darüber ausgefochten wurden.

Wo war das demütige Vorbild des Gottessohnes geblieben?

Zu allem Unglück bezogen die regierenden Kaiser immer wieder wechselnde Positionen, je nach eigener Anschauung; und - was noch verheerender war - je nach politischer Notwendigkeit. Brauchte man die Einigung mit Rom, so mußte man sich auf den Boden mit dessen Auffassungen stellen; brauchte man die Unterstützung in innerkirchlichen Auseinandersetzungen, galt das ebenso. Brauchte man dagegen die Unterstützung der eigenen Mehrheit der Kirche, mußte man von Roms Ansichten abweichen. Kaum einer der führenden Theologen der Ostkirche wurde nicht wegen seiner Auffassung jener Streitpunkte einmal verurteilt, ein andermal wieder rehabilitiert.

Kaiser Justinian I. befürchtete, daß in der Kirche wegen dieser Streitigkeiten eine Trennung stattfinden könnte - und somit auch die Einigkeit des Reiches in Gefahr stand. Sein Bestreben war, eine autoritäre Persönlichkeit zu finden, die den Streit beilegen und dem Volk klarlegen würde, was es zu glauben - und was es nicht zu glauben habe.

Da der Bischof von Rom bereits der populärste Anwärter für diese hohe Stellung war und zudem aufs beste mit den Ansichten des Kaisers harmonierte, stand jenem Dekret nichts mehr im Wege.

Wie schon erwähnt. erfahren wir in Bd. 3, Studie 3 mehr über jenen nicht nur historischen, sondern vor allem prophetischen Zeitpunkt, der für 1260 Jahre die Geschichte der Kirche, der nominellen  u n d  der wahren  u n d  des Evangeliums prägen sollte.

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„Aber ich habe wider dich, daß du das Weib Jesabel duldest, welche sich eine Prophetin nennt, und sie lehrt und verführt meine Knechte, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen.“

In der ganzen Geschichte gibt es keine Person, die so sehr das Wesen der römischen Kirche abbildet wie jenes Weib Ahabs, des Königs von Israel: die „Jesabel“ dieser Botschaft an Thyatira. Sie war eine Heidin, mit einem Israeliten verheiratet; und dies ist der Charakter des römisch-heidnischen Systems in seinen hauptsächlichen Zügen. Heidentum - vermischt mit Judentum! Heidnisches Leben, heidnische Kulte verwandelten die christliche Lehre in ein Bastardgebilde. Heidnischer Pomp und Zeremonien wurden mit christlichen Riten und Sakramenten vermischt.

Das Buch der Offenbarung (Kap. 2:20-25; 18:7) führt uns diese Königin Jesabel vor Augen als Darstellerin eines großen, religiösen Systems dieses Evangeliumszeitalters, das der reinen Wahrheit des Evangeliums Jesu Christi immerfort Gewalt antut. Sie wird beschrieben als eine Person, die sich selbst eine Prophetin nennt und die sich anmaßt, die offizielle Lehrerin der Knechte Gottes zu sein. Ahab, der König von Israel, stellt hier die weltlichen Regierungen dar.

Das unfehlbare Wort, die Heilige Schrift (und diese allein) muß der Maßstab sein, an dem ein freier Christ jede Glaubensansicht prüft und bewertet. Ein  a u f e r l e g t e s  G l a u b e n s b e k e n n t n i s,  das zur einzigen richtigen Meßschnur eingesetzt wird, erübrigt sofort die Berufung auf die Heilige Schrift. Und wenn in diesem Glaubensbekenntnis ein Irrtum enthalten ist, dann wird er ebenso aufrechterhalten wie eine darin enthaltene Wahrheit. Die Schrift wird nicht einmal zugelassen, diesen Irrtum aufzudecken. „Jesabels prophetische Glaubenssätze“ sind unfehlbar, und diese „Unfehlbarkeit“ darf nicht nachgeprüft, sondern muß blind geglaubt werden.

Wir wissen, daß Gottes Wort gerade das Gegenteil lehrt. (s. Röm. 12:2 u.a.). Es war die Vernachlässigung des Wortes Gottes, die in die nominelle Kirche Gottes alle jene übel einführte, die mit dem Ausdruck „Hurerei zu treiben“ und „Götzenopfer zu essen“ symbolisiert werden. Wir haben gesehen, wie dieses Böse in Pergamus seine Entstehung hatte; aber in der Thyatira-Epoche wuchs es sich in der Kirche bis zu einem solchen Ausmaß aus, daß diese dem wahren Evangelium so gänzlich abtrünnig wurde.

Während es in „Pergamus“ bereits eine Menge von Verdrehungen des Wortes Gottes gab, behauptete damals noch keiner, von Gott inspiriert zu sein, und niemand gab sich als der „einzig vom Herrn anerkannte Kanal der göttlichen Gnade und Wahrheit“ aus.

Das Wort Gottes wurde in „Pergamus“ noch immer hoch in Ehren gehalten, und es hatte dort auch seine treuen Zeugen. Diese unerschrokkenen Zeugen protestierten durch das Licht, das in ihnen wohnte und auf die anderen ausstrahlte, gegen die drohenden Sünden des Nikolaitentums  u n d  des Jesabelismus.

Aber in Thyatira schien das Wort Gottes sich nicht länger behaupten zu können.

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe.



Tagesanbruch Bibelstudien- Vereinigung